
Zwischen den Stationen
Julian lockerte seine Krawatte mit einer langsamen, beinahe rituellen Bewegung. Der erste Schritt seiner abendlichen Verwandlung vom Büroangestellten zurück in sein eigentliches Selbst.
Foto von Jennifer Latuperisa-Andresen auf Unsplash
Die Glastüren des Bürogebäudes schlossen sich hinter Julian mit einem sanften Zischen, als hätte das Gebäude selbst einen erleichterten Seufzer ausgestoßen. Der Tag war endlich vorüber. Die Maisonne hing tief am Himmel und tauchte die Straße in ein weiches, amberfarbenes Licht, das die Konturen der Stadt weicher erscheinen ließ als am Morgen, als er mit zusammengekniffenen Augen und einem zu heißen Kaffee in der Hand dieselbe Straße entlanggelaufen war.
Julian lockerte seine Krawatte mit einer langsamen, beinahe rituellen Bewegung. Der erste Schritt seiner abendlichen Verwandlung vom Büroangestellten zurück in sein eigentliches Selbst. Seine Schultern senkten sich um einen Zentimeter, als er den Knoten löste. Der Druck des Tages – die endlosen Meetings, die forschenden Blicke seines Vorgesetzten, die Flut der E-Mails – all das begann sich aufzulösen wie Nebel in der Morgensonne.
Der Bahnhof empfing ihn mit seinem charakteristischen Gemisch aus Geräuschen: das metallische Quietschen einfahrender Züge, das gedämpfte Stimmengewirr der Pendler, das rhythmische Klacken von Absätzen auf Betonboden. Julian bewegte sich mit der mühelosen Vertrautheit eines Menschen, der diesen Weg schon tausendmal gegangen war. Seine Füße kannten jede Treppenstufe, jeden Knick im Bahnsteig.
Als der Zug mit einem sanften Zischen der Druckluftbremsen am Bahnsteig zum Stehen kam, öffneten sich die Türen mit einem charakteristischen pneumatischen Seufzen. Julian wartete geduldig, bis die erste Welle aussteigender Passagiere vorüber war, bevor er den Schritt über die abgenutzte Metallschwelle wagte. Der Regionalexpress der Baureihe 612 – Julian kannte die Typenbezeichnung, ohne sie je bewusst gelernt zu haben – begrüßte ihn mit jenem unverwechselbaren Geruchscocktail, den nur Züge besitzen: eine Mischung aus synthetischem Polsterstoff, dem leicht metallischen Aroma der Klimaanlage, einem Hauch von Desinfektionsmittel und den hundert verschiedenen Parfüms, Aftershaves und Deos der Fahrgäste, die hier den Tag verbracht hatten.