
Wo der Tag sich hinsetzt
Der erste Regentropfen zeichnete seine zitternde Spur auf der großen Fensterscheibe, als Jonas die schwere Holztür des Café Zeitlos aufstieß. Die warme Luft im Inneren umfing ihn sofort, ein samtener Kokon aus Kaffeearomen, Zimt und dem unverwechselbaren Duft alter Holzdielen.
Foto von Kris Atomic auf Unsplash
Der erste Regentropfen zeichnete seine zitternde Spur auf der großen Fensterscheibe, als Jonas die schwere Holztür des Café Zeitlos aufstieß. Die warme Luft im Inneren umfing ihn sofort, ein samtener Kokon aus Kaffeearomen, Zimt und dem unverwechselbaren Duft alter Holzdielen, die unter jedem Schritt leise ächzten, als trügen sie Geschichten vergangener Tage in sich.
Es war wieder einer dieser grauen Nachmittage, an denen die Stadt draußen in einem Nebel aus Hektik und Lärm versank, während hier drinnen die Zeit in ihrem eigenen, gemächlichen Rhythmus verging. Jonas schüttelte die Regentropfen von seiner Jacke und nickte dem Kellner zu, der gerade mit einem Tablett balancierte, auf dem Porzellantassen in verschiedenen Größen und Formen wie kleine Kunstwerke arrangiert waren.
"Ah, der Herr mit dem beobachtenden Blick kehrt zurück", grüßte ihn der Kellner, ein hochgewachsener Mann mit silbernen Schläfen und einer Weste, deren Knöpfe aus poliertem Messing im gedämpften Licht der altmodischen Lampen glänzten. "Die übliche Ecke? Dort, wo das Licht mit den Schatten tanzt?"
Jonas lächelte und ging ohne zu antworten zu seinem Stammplatz – ein kleiner Tisch nahe dem hohen Bogenfenster, dessen hölzerner Rahmen mit den Jahren eine tiefe Honigfarbe angenommen hatte. Von hier aus konnte er das gesamte Café überblicken: die ungleichen Stühle mit ihren abgenutzten Polstern, den leicht schiefen Tresen mit der antiken Kasse, deren Tasten bei jedem Druck ein zufriedenes Klingeln von sich gaben, und vor allem – die Menschen.
Er zog sein abgegriffenes Skizzenbuch aus der Ledertasche, legte es neben sich und bestellte seinen üblichen doppelten Espresso. Der Kellner – Herr Weber, wie Jonas inzwischen wusste – verbeugte sich leicht und rezitierte mit dramatisch erhobener Hand: "Ein dunkler Trank in kleiner Schale, weckt Gedanken ohne Zahl. Espresso doppelt, stark und heiß, beginnt des Nachmittags Geleis."
Das war eines seiner einfacheren Gedichte, dachte Jonas amüsiert. Bei komplizierteren Bestellungen konnte Herr Weber minutenlang improvisieren, während die Gäste entweder peinlich berührt oder hingerissen lauschten. Es war eine der ungeschriebenen Regeln des Café Zeitlos – jede Bestellung wurde mit einem spontanen Gedicht quittiert.
Jonas' Blick wanderte weiter durch den Raum, suchte und fand vertraute Gesichter. Da war sie wieder, die ältere Dame mit dem schneeweißen, zu einem straffen Knoten gebundenen Haar. Sie saß wie immer am Fenster zur Straße, in einem Sessel, dessen rotes Samtpolster im Laufe unzähliger Nachmittage seine Farbe an ihren dunkelblauen Mantel abgegeben zu haben schien. Vor ihr lag ein Kreuzworträtsel, über das sie sich mit zusammengekniffenen Augen beugte, den Bleistift wie ein Dirigentenstab zwischen ihren knochigen Fingern balancierend.
"...ein Wort mit sechs Buchstaben, das Vergänglichkeit beschreibt", murmelte sie vor sich hin, während sie mit dem kleinen Finger ihrer freien Hand die Reihe der leeren Kästchen berührte.
Etwas weiter hinten, fast verborgen in der Nische neben dem alten Bücherregal, entdeckte Jonas das Pärchen. Sie kamen immer dienstags und donnerstags, immer zur selben Zeit, immer an denselben Tisch. Er trug stets Hemden mit Karos, sie Kleider mit kleinen Blütenmustern, als hätten sie sich in einer anderen Epoche verloren. Das Seltsamste aber war ihre Stille – sie sprachen nie, nicht ein Wort. Und doch hielten sie sich ständig an den Händen, ihre Finger ineinander verschlungen wie die Wurzeln alter Bäume, ihre Blicke eine stumme Unterhaltung, die keiner Worte bedurfte.
Jonas' Espresso kam, und mit ihm ein leises Klirren, als Herr Weber die kleine Untertasse auf den Tisch stellte. Der Kaffee war genau richtig – stark, mit einer samtigen Crema, die wie ein warmes Versprechen auf der dunklen Oberfläche schwebte. Jonas nahm einen Schluck und spürte, wie die Wärme durch seinen Körper strömte, die Gedanken klärte, die Sinne schärfte.
Er öffnete sein Skizzenbuch, spürte das leichte Gewicht des Papiers unter seinen Fingerspitzen, diese besondere Textur des hochwertigen Zeichenpapiers – etwas rau, mit feinem Korn, das den Graphit auf eine Weise aufnahm, die Jonas immer wieder faszinierte. Der erste Strich war stets der schwierigste. Ein Moment des Zögerns, ein kurzes Innehalten, bevor der Bleistift das unberührte Weiß des Blattes berührte.
Jonas atmete tief ein, ließ die Luft langsam durch seine Nasenlöcher entweichen und gab sich dem Rhythmus hin, der sich tief in seinem Inneren zu entfalten begann – dieser fast meditative Zustand, in dem seine Hand wusste, was sie tun musste, noch bevor sein Verstand es formulierte. Der Bleistift berührte das Papier, zunächst ganz sanft, kaum mehr als ein Hauch, der die grundlegende Form umriss – den geneigten Kopf der alten Dame, die geschwungene Linie ihrer gebeugten Schultern, den feinen Bogen des Nackens unter dem straff zurückgebundenen Haar.
Wie ein Tänzer, der langsam in seinen Rhythmus findet, wurde jeder Strich sicherer, präziser. Die weichen Linien des 2B-Bleistifts hinterließen einen seidigen Schatten auf dem Papier, sanft genug, um Korrekturen zu erlauben, doch bestimmt genug, um Charakter zu zeigen. Das beruhigende Rascheln des Graphits auf dem Papier vermischte sich mit der Jazzmusik im Hintergrund zu einer eigenen kleinen Symphonie.
Jonas spürte, wie sich seine Schultern entspannten, wie sich sein Atem verlangsamte, synchron mit dem Rhythmus seiner Striche. Die winzigen Bewegungen seiner Fingerspitzen übersetzten das, was seine Augen wahrnahmen, in eine visuelle Poesie – die Art, wie das Licht auf den silbernen Haarsträhnen der alten Dame tanzte, die feinen Linien um ihre Augen, Zeugen eines langen Lebens voller Lachen und Sorgen. Die knochigen Finger, die den Bleistift mit dieser eigentümlichen Entschlossenheit umklammerten, die von jahrelanger Übung sprachen.
Mit jeder Linie, die er zog, versank Jonas tiefer in diesem besonderen Zustand zwischen Konzentration und Träumerei. Die Welt um ihn herum trat zurück, wurde zu einem sanften Hintergrundrauschen, während sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Dialog zwischen seinem Bleistift und dem Papier richtete. Es war, als würde er nicht nur die äußere Erscheinung der alten Dame einfangen, sondern auch etwas von ihrer Essenz – die konzentrierte Nachdenklichkeit in ihren Augen, die leicht vorgeschobene Unterlippe, wenn sie auf ein besonders kniffliges Rätsel stieß, die ruhige Gelassenheit, die sie wie eine Aura umgab.
Gelegentlich hob er den Bleistift, lehnte sich zurück, betrachtete sein Werk durch halbgeschlossene Augen – ein Trick, den er vor Jahren gelernt hatte, um Proportionen besser zu erfassen. Der Druck seiner Fingerspitzen auf dem Bleistift variierte, schuf tiefere Schatten dort, wo das gedämpfte Licht des Cafés das Gesicht der Frau modellierte, und ließ andere Stellen fast unberührt, in einem zarten Weiß, das die Reinheit des Papiers durchscheinen ließ.
Es war ein Tanz, ein Dialog, eine Meditation. Eine Art des Sehens, die tiefer ging als die bloße visuelle Wahrnehmung. Jonas spürte, wie sich ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit in ihm ausbreitete, warm und golden wie Honig, der im Sonnenlicht fließt. Das leise Knirschen des Graphits auf dem Papier, das sanfte Gleiten seiner Hand, der konzentrierte Rhythmus seines Atems – all das verschmolz zu einem Moment reiner Präsenz, in dem nichts existierte außer diesem stillen Gespräch zwischen dem Zeichner, seinem Motiv und dem leeren Blatt, das sich langsam mit Leben füllte.
Auf der nächsten Seite begann das schweigende Pärchen Form anzunehmen. Jonas versuchte, die eigentümliche Spannung einzufangen, die zwischen ihnen vibrierte, diese besondere Art der Kommunikation, die ohne Worte auskam. Er zeichnete ihre Hände, wie sie ineinander lagen – sehnig, mit hervortretenden Adern die seinen, zart, mit schlanken Fingern die ihren.
Die Nachmittagsstunden verstrichen. Draußen wurde der Regen stärker, trommelte nun rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Das Licht veränderte sich, wurde weicher, goldener, ließ die Holzdielen und die dunklen Möbel des Cafés in warmen Tönen erstrahlen. Die Jazzmusik, die beständig aus den versteckten Lautsprechern strömte, wechselte von lebhaftem Bebop zu sanfteren Melodien, in denen ein Saxophon träumerisch über Klavierakkorde glitt.
Jonas bemerkte, wie sich das Café langsam zu leeren begann. Die alte Dame mit dem Kreuzworträtsel hatte ihren Mantel übergeworfen und war mit einem zufriedenen Nicken gegangen, das Rätsel offenbar gelöst. Das schweigende Pärchen hatte sich erhoben, Hand in Hand, wie zwei Tänzer, die sich synchron bewegen, ohne dass eine Choreographie nötig wäre.
Nur er blieb, und ein paar vereinzelte Gäste an den anderen Tischen. Herr Weber wischte mit einem weißen Tuch über die Tische, polierte Gläser, summte dabei leise zur Musik. Die Regentropfen an den Fenstern verschmolzen zu kleinen Bächen, die das Licht der Stadt in tanzende Reflexe brachen.
Jonas lehnte sich zurück, sein Skizzenbuch auf dem Schoß. Die Wärme des Raumes, das sanfte Licht, die leisen Geräusche – all das vermischte sich zu einem Gefühl tiefer Geborgenheit. Er spürte, wie seine Augenlider schwerer wurden, wie die Grenzen zwischen Wachen und Träumen zu verschwimmen begannen.
In diesem Zwischenraum, diesem Niemandsland zwischen Bewusstsein und Schlaf, schien das Café noch intensiver zu werden, als wäre jedes Detail – der Duft von frisch gemahlenem Kaffee, das leise Murmeln entfernter Gespräche, das sanfte Ticken der alten Wanduhr – Teil einer perfekten Symphonie. Jonas konnte nicht sagen, ob Minuten oder Stunden vergingen, während er in diesem Zustand verweilte, diesem kostbaren Moment vollkommenen Friedens.
Und dann, wie ein Erwachen in einen Traum hinein statt aus ihm heraus, bemerkte Jonas, dass das Café leer war. Nur er und Herr Weber waren noch da. Der Regen draußen hatte nachgelassen, hinterließ nur ein leises Tropfen von den Dachrinnen. Die Lichter waren gedimmt worden, die Musik leiser, nur noch ein flüsternder Hauch von Melodie.
"Wir schließen bald", sagte Herr Weber leise, stellte aber gleichzeitig eine frische Tasse dampfenden Kaffees vor Jonas hin. "Aber diesen Moment zu unterbrechen wäre ein Frevel."
Jonas blickte auf sein Skizzenbuch. Ohne es bewusst bemerkt zu haben, hatte er weitergezeichnet – nicht mehr einzelne Gäste oder Details, sondern das Café selbst, als Ganzes. Die Zeichnung fing etwas ein, das über die bloße Abbildung hinausging – die besondere Stimmung dieses Ortes, diese Insel der Ruhe im Strom der Zeit.
"Manche Orte", sagte Herr Weber nach einer Weile, während er einen Blick auf die Zeichnung warf, "haben eine Seele. Sie nähren uns, wenn wir es am nötigsten brauchen."
Jonas nickte langsam. Er wusste, dass er morgen wiederkommen würde, und am Tag darauf. Dass er weiterhin beobachten, zeichnen, diesen besonderen Raum zwischen den Zeiten erkunden würde. Dass er hier, in diesem altmodischen Café mit den hohen Fenstern und den knarrenden Dielen, einen Teil seiner selbst gefunden hatte, den er lange vermisst hatte.
Er trank seinen Kaffee aus, während der Regen wieder stärker wurde, ein sanftes Prasseln gegen die Dunkelheit. In seinem Inneren aber war es still geworden, klar und ruhig wie ein tiefer See. Und in diesem Moment, zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Träumen, zwischen den Zeiten, wusste Jonas mit absoluter Gewissheit: Genau jetzt ist alles gut.
Kommentare