Was zwischen Geranien wächst
Ein leises Summen, so zart, dass es sich zwischen das Zirpen der Grillen und das ferne Rauschen der Autos mischte. Eine Melodie ohne Anfang, ohne Ende – nur ein stetiger, sanfter Fluss von Tönen, der durch die warme Abendluft glitt.
Die Dämmerung fiel sanft durch die Jalousien, verwandelte das kleine Zimmer in eine Landschaft aus Bernstein und verwaschenem Violett. Draußen dämpfte sich der Tag langsam ab, die Geräusche der Stadt wurden weicher, als würde jemand behutsam an einem unsichtbaren Regler drehen.
Es war diese Stunde, in der sich alles ein wenig zurücknahm.
Das erste Mal war es kaum aufgefallen. Ein leises Summen, so zart, dass es sich zwischen das Zirpen der Grillen und das ferne Rauschen der Autos mischte. Eine Melodie ohne Anfang, ohne Ende – nur ein stetiger, sanfter Fluss von Tönen, der durch die warme Abendluft glitt.
Am dritten Abend war die Neugier stärker geworden als die Müdigkeit. Ein Blick zur Seite, durch den schmalen Spalt zwischen Vorhang und Fensterrahmen. Und da war er: der ältere Nachbar von gegenüber, auf seinem kleinen Balkon, eine grüne Gießkanne in der Hand. Seine Bewegungen waren langsam, bedächtig, als würde er nicht nur Wasser verteilen, sondern auch Zeit. Jede Pflanze bekam ihre Aufmerksamkeit – die Geranien mit ihren leuchtenden Blüten, das Basilikum im Terrakottatopf, die rankenreiche Efeutute, die sich am Geländer entlangschlängelte.
Und dabei summte er. Immer zur gleichen Zeit. Immer dieselbe ruhige, gleichmäßige Melodie.
Es wurde zu einem Ritual. Nicht das seine allein, sondern auch ein eigenes, stilles. Die Erwartung, wenn sich der Abend senkte. Das Lauschen. Das Wissen, dass gleich diese vertraute, summende Stimme durch die Stille dringen würde. Es hatte etwas Beruhigendes, wie das Ticken einer alten Uhr oder das Murmeln eines Baches – Geräusche, die nicht störten, sondern trugen.
Die Gedanken verloren sich dabei oft. Wie viele Jahre er das wohl schon tat? Ob er es bemerkte, dass jemand zuhörte? Ob die Pflanzen wirklich wuchsen, weil er mit ihnen sprach – oder summte? Die Wissenschaft sagte etwas von Schwingungen, von Zuwendung. Aber vielleicht war es einfacher als das. Vielleicht brauchten manche Dinge nur Beständigkeit, um zu gedeihen.
An diesem Abend war die Luft besonders mild. Das Fenster stand offen, ließ die laue Brise herein, die nach Sommerregen und frisch gemähtem Gras roch. Die Sonne war längst versunken, hatte nur noch einen zarten rosa Schimmer am Horizont hinterlassen, der allmählich in Indigo überging.
Auf dem Balkon des alten Mannes erwachten nun die kleinen Lichter. Eine Lichterkette, gedimmt bis zur Sanftheit, schlängelte sich zwischen den Töpfen hindurch – nicht aufdringlich, nicht grell, sondern wie eingefangene Glühwürmchen, die sich in den Ranken verfangen hatten. Das Licht war bernsteinfarben, warm wie Honig, und es ließ die Blätter der Pflanzen in einem weichen Grün schimmern, als wären sie von innen heraus beleuchtet.
Zwischen dem Basilikum und den Geranien hingen kleine Lampions aus Reispapier, rund und zart wie Monde in Miniatur. Sie schwankten kaum merklich in der Brise, warfen bewegliche Schatten auf die Balkonwand – sanfte Kreise, die sich dehnten und zusammenzogen im Rhythmus des Abendwindes. Ihr Licht war so gedämpft, dass es die Dunkelheit nicht vertrieb, sondern sich mit ihr arrangierte, eine stille Übereinkunft zwischen Tag und Nacht.
Das Leuchten umhüllte den kleinen Balkon wie einen eigenen, abgeschiedenen Raum – eine Insel aus gedämpftem Licht in der wachsenden Dämmerung. Es machte die Pflanzen zu Silhouetten mit leuchtenden Rändern, verwandelte jeden Topf in ein kleines Geheimnis aus Licht und Schatten. Die Efeutute warf zarte Blattmuster an die Wand, tanzende Formen, die sich mit jedem Lufthauch veränderten.
Es war eine Lichtstimmung, die zum Verweilen einlud. Zum langsamen Atmen. Die nicht wachhielt, sondern einhüllte – wie das letzte Tageslicht, das sich nicht ganz verabschieden wollte, sondern in diesen kleinen, künstlichen Sonnen Zuflucht fand.
Das Summen begann wie immer. Aber heute blieb die Gießkanne auf halber Höhe stehen. Der Nachbar schaute auf, direkt herüber, und für einen Moment trafen sich zwei Blicke in der weichen Dämmerung.
Ein Lächeln. Ein kurzes Nicken.
Und dann, ganz leise, fast schüchtern: „Schöner Abend, nicht wahr?"
Die Stimme war rau, aber freundlich, getragen von Jahren und vielen Geschichten. Sie passte zu dem Summen, zu den bedächtigen Bewegungen.
„Ja. Sehr schön."
Es war seltsam, wie schwer Worte manchmal waren. Nicht wegen ihrer Bedeutung, sondern wegen des Moments, den sie durchbrachen. Aber dieser Moment wollte nicht zerbrechen. Er dehnte sich nur aus, machte Platz für mehr.
„Sie kümmern sich gut um Ihre Pflanzen", kam es über den schmalen Abstand zwischen den Balkonen.
Der alte Mann lachte leise, ein Geräusch wie raschelnde Blätter. „Ach, sie kümmern sich um mich, würde ich eher sagen. Geben einem einen Grund, jeden Tag aufzustehen. Jeden Abend nach Hause zu kommen."
Die Gießkanne fand ihren Weg zur Efeutute, Wasser tropfte sanft auf die Erde. Der Geruch von feuchter Blumenerde mischte sich in die Luft, erdig und lebendig.
„Meine Frau hat die meisten gepflanzt", fuhr er fort, ohne aufzublicken. „Vor vielen Jahren. Sie sagte immer, Pflanzen sind wie Erinnerungen. Man muss sie pflegen, sonst verwelken sie."
Die Worte hingen zwischen den Balkonen, webten sich in die Stille. Es gab keine Traurigkeit darin, nur eine tiefe, sanfte Akzeptanz. Wie das Verblassen des Lichts am Horizont – nicht plötzlich, nicht gewaltsam, sondern als natürlicher Teil des Ganzen.
„Ich habe nie viel davon verstanden", sagte er und richtete sich langsam auf, strich mit der Hand über ein Blatt der Geranie. „Von Pflanzen, meine ich. Sie war diejenige mit dem grünen Daumen. Aber nach und nach... man lernt ihre Sprache. Wann sie Wasser brauchen. Wann zu viel Sonne sie müde macht. Wann sie einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen."
Ein Vogel zog vorbei, verschwand im dunkler werdenden Himmel.
„Es ist wie mit Menschen, denke ich manchmal. Man muss lernen, zuzuhören. Nicht mit den Ohren – mit der... Aufmerksamkeit."
Seine Hand ruhte auf dem Geländer, die Finger verwittert wie altes Holz, aber fest. Stark auf eine Art, die nicht laut sein musste.
Die Frage formte sich von selbst, leise: „Vermissen Sie sie sehr?"
Der alte Mann drehte sich um, schaute herüber. Im Dämmerlicht waren seine Augen kaum zu erkennen, aber etwas darin leuchtete – sanft, warm, wie eine Kerze hinter Milchglas.
„Jeden Tag", sagte er einfach. „Aber das ist nicht schlimm. Vermissen bedeutet, dass etwas da war, das es wert ist, erinnert zu werden. Das ist mehr, als viele haben."
Er summte wieder, dieselbe Melodie, und es klang wie eine Antwort auf eine Frage, die nie gestellt worden war.
Die Gedanken drifteten mit dem Summen davon. Wie viele solcher Momente gab es wohl im Leben? Diese kleinen, stillen Begegnungen, die nichts veränderten und doch alles. Worte, die gesprochen wurden, ohne dass man sie suchte. Weisheiten, die sich nicht wichtig machten, sondern einfach da waren, wie Steine am Wegesrand.
„Wissen Sie", sagte der Nachbar nach einer Weile, während er die leere Gießkanne abstellte, „das Schönste an Pflanzen ist, dass sie nicht eilen. Sie wachsen in ihrem Tempo. Manche schnell, manche langsam. Aber sie alle wissen, dass der Frühling wiederkommt. Immer."
Seine Gestalt begann zu verschwimmen im zunehmenden Dunkel. Nur die weißen Blüten der Geranien leuchteten noch, wie kleine Sterne auf dem Balkon.
„Gute Nacht", kam es leise herüber. „Und danke fürs Zuhören. Manchmal reicht das schon."
„Gute Nacht."
Das Summen verstummte. Die Balkontür schloss sich mit einem sanften Klicken. Drinnen ging ein warmes Licht an, schimmerte durch die Vorhänge.
Die Nacht legte sich über die Häuser, weich wie eine Decke. Die Grillen sangen ihr endloses Lied. Irgendwo in der Ferne fuhr ein Zug vorbei, sein Rumpeln verlor sich allmählich in der Weite.
Die Gedanken wurden langsamer, schwerer, sanken wie Steine in einen stillen Teich. Morgen würde der alte Mann wieder auf seinem Balkon stehen, zur gleichen Zeit, mit seiner Gießkanne und seinem Summen. Und vielleicht würde wieder ein Gespräch entstehen. Oder einfach nur das gemeinsame Schweigen, das genauso viel sagte.
Manche Freundschaften brauchten keine großen Gesten. Keine langen Erklärungen. Sie waren wie diese Pflanzen – wuchsen langsam, stetig, wenn man ihnen Zeit gab. Wenn man sie bemerkte. Wenn man ihnen jeden Abend ein wenig Aufmerksamkeit schenkte.
Die Augen wurden schwer. Das Kissen fühlte sich weich an, nachgiebig, wie eine Wolke. Die Dunkelheit war nicht bedrohlich, sondern einladend – ein sanfter Raum, in dem sich alles auflösen durfte. Die Gedanken, die Sorgen, die Fragen.
Nur das Summen blieb. Nicht wirklich, nicht mehr mit den Ohren zu hören. Aber drinnen, als Echo. Als Erinnerung. Als Versprechen, dass morgen wieder ein Abend kommen würde, an dem kleine, stille Dinge Bedeutung hatten.
Dass Wachsen Zeit brauchte.
Dass Vermissen lieben bedeutete.
Dass zuhören manchmal genug war.
Die Nacht atmete leise. Der Schlaf kam auf samtenen Füßen, legte sich behutsam über müde Gedanken. Und irgendwo, in der Stille zwischen Traum und Wachen, summte eine alte Melodie weiter – zeitlos, endlos, sanft wie Regen auf durstiger Erde.
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