Spazieren im Regen
Der Regen hatte bereits vor einer Stunde eingesetzt, als Emili ihre Jacke vom Haken nahm. Nicht der schwere, treibende Regen, der Menschen in Hauseingänge flüchten lässt, sondern jener sanfte, fast schüchterne Nieselregen, der die Welt in einen Schleier aus winzigen Perlen hüllt.
Passende Geräusche zur Geschichte
Der Regen hatte bereits vor einer Stunde eingesetzt, als Emili ihre Jacke vom Haken nahm. Nicht der schwere, treibende Regen, der Menschen in Hauseingänge flüchten lässt, sondern jener sanfte, fast schüchterne Nieselregen, der die Welt in einen Schleier aus winzigen Perlen hüllt.
Sie zog die Kapuze über den Kopf, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit, und trat hinaus in die Dämmerung. Der erste Atemzug trug all die Düfte mit sich, die nur der Regen hervorzubringen vermag – das erdige Aroma von nassem Asphalt, vermischt mit dem süßlichen Geruch der Lindenblüten aus dem Vorgarten der Nachbarn. Es war, als würde die Luft selbst gewaschen, gereinigt von der Hitze des vergangenen Tages.
Emilis Schritte fanden einen eigenen Rhythmus auf dem glänzenden Bürgersteig. Das leise Platschen ihrer Sohlen mischte sich mit dem beständigen Tropfen, das von den Dachrinnen perlte. Sie spürte, wie die Feuchtigkeit durch die dünne Stoffschicht ihrer Turnschuhe drang, aber es störte sie nicht. Im Gegenteil – diese kleine Unbequemlichkeit verankerte sie im Hier und Jetzt, ließ sie spüren, dass sie Teil dieser regennassen Welt war.
Die Straßenlaternen erwachten gerade zum Leben, ihr warmes Licht brach sich in tausend winzigen Prismen auf dem nassen Asphalt. Emili beobachtete, wie sich ihre eigene Silhouette in den Pfützen spiegelte, verzerrt und doch irgendwie vertraut. Mit jedem Schritt löste sich ein Stück der Anspannung, die sich über den Tag in ihren Schultern angesammelt hatte.
An der Ecke zur Lindenstraße blieb sie stehen. Hier, wo die alten Bäume ihre Äste wie ein Dach über die Straße spannten, sammelte sich der Regen zu größeren Tropfen, die in unregelmäßigen Abständen auf ihre Kapuze trommelten. Das Geräusch erinnerte sie an Kindertage, an Zelte aus Decken und das beruhigende Prasseln auf dem Dach des Gartenhäuschens.
Das Gartenhäuschen – wie deutlich sie es plötzlich vor sich sah. Versteckt hinter Großmutters üppigen Tomatenpflanzen, deren schwerer Duft sich an heißen Sommertagen mit dem der Ringelblumen mischte. Die Holzwände waren verwittert und grau, aber für sie war es ein Palast gewesen. Drinnen hatte es nach altem Holz und Erde gerochen, nach den Tontöpfen, die sich auf den wackeligen Regalen stapelten. In der Ecke wuchsen die Kapuzinerkresse mit ihren leuchtend orangen Blüten wild über den Rand einer alten Zinkwanne, und durch die Ritzen in den Brettern hatte sich eigensinnig wilder Wein seinen Weg gebahnt. An Regentagen hatte sie dort gesessen, umgeben vom Duft der Kräuter, die in Bündeln von der Decke hingen – Thymian, Rosmarin, Lavendel – und dem Prasseln auf dem Blechdach gelauscht. Ein eigenes kleines Universum, in dem die Zeit stillzustehen schien.
Die Fenster der Häuser glühten in der Dunkelheit wie kleine Bühnen. Hinter beschlagenen Scheiben konnte sie die Umrisse von Leben erahnen – eine Familie beim Abendessen, das flackernde Licht eines Fernsehers, eine einsame Gestalt, die über Büchern gebeugt saß. Jedes Fenster erzählte seine eigene Geschichte, und Emili fühlte sich seltsam verbunden mit all diesen fremden Leben, die parallel zu ihrem eigenen verliefen.
Sie bog in die kleine Gasse ein, die zum Park führte. Hier war es dunkler, die Straßenlaternen spärlicher gesät. Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich – das glatte Asphalt wich altem Kopfsteinpflaster, dessen Fugen sich mit Wasser gefüllt hatten. Jeder Schritt fühlte sich anders an, unregelmäßig, als würde sie über die Rücken schlafender Riesen wandeln. Das spärliche Licht der einzigen Laterne am Ende der Gasse warf lange, zitternde Reflexionen über die nassen Steine, verwandelte jeden in einen kleinen, schwarzen Spiegel.
Die alten Fassaden zu beiden Seiten rückten näher zusammen, als wollten sie ein Geheimnis teilen. Der Putz blätterte an manchen Stellen ab und entblößte das darunterliegende Mauerwerk, das im Regen eine fast samtige Textur annahm. Emili streckte im Vorbeigehen die Hand aus, ließ ihre Fingerspitzen über die raue, feuchte Oberfläche gleiten. Die Wand fühlte sich kühl an, lebendig, als würde sie die Geschichte all der Jahre in sich tragen. Efeu hatte sich seinen Weg zwischen den Rissen gebahnt, seine Blätter glänzten wie dunkelgrünes Leder im schwachen Licht.
Der Duft von nassem Laub wurde intensiver, erdiger, vermischt mit dem moosigen Aroma, das von den Kellerfenstern aufstieg. Ihre Atmung vertiefte sich automatisch, als würde ihr Körper instinktiv mehr von dieser reinen, gewaschenen Luft aufnehmen wollen.
Im Park angekommen, ließ sie sich auf eine Bank unter einer großen Kastanie sinken. Das Holz war feucht, aber auch das störte sie nicht. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und lauschte. Der Regen hatte hier eine andere Qualität – weicher, gedämpft durch das Blätterdach. Einzelne Tropfen fanden ihren Weg durch die Zweige, landeten kühl auf ihrer Stirn, ihren Wangen.
Mit geschlossenen Augen nahm sie die Welt intensiver wahr. Das Rauschen der Blätter im sanften Wind, das ferne Brummen eines vorbeifahrenden Autos, das Zirpen einer mutigen Grille, die trotz des Regens ihr Lied sang. All diese Geräusche webten sich zu einer Symphonie zusammen, die nur dieser Moment, nur dieser Ort hervorbringen konnte.
Emili spürte, wie sich etwas in ihr löste. Die Gedanken, die den ganzen Tag wie aufgescheuchte Vögel in ihrem Kopf umhergeflattert waren, kamen langsam zur Ruhe. Die Sorge um die Präsentation morgen, der Streit mit ihrer Schwester, die unbezahlte Rechnung auf dem Küchentisch – all das schien plötzlich sehr weit weg, als gehörte es zu einem anderen Leben, einer anderen Person.
Stattdessen füllte sich der Raum in ihrem Inneren mit der Gegenwart. Mit dem Gefühl der kühlen Luft auf ihrer Haut, dem Gewicht ihrer durchnässten Jacke, dem beruhigenden Rhythmus ihres eigenen Atems. Sie war hier, jetzt, in diesem Moment, und das war genug.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die Augen wieder öffnete. Die Welt sah anders aus – weicher, versöhnlicher. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Pfützen wie Sterne in einem umgekehrten Himmel. Selbst die Dunkelheit zwischen den Bäumen hatte ihre bedrohliche Qualität verloren, war zu einem sanften Kokon geworden, der sie umhüllte.
Langsam stand sie auf, spürte dabei, wie sich ihre Muskeln streckten. Der Spaziergang hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Mit jedem Schritt zurück nach Hause fühlte sie, wie sich die Verspannungen lösten. Zuerst in den Schultern – diese chronisch hochgezogenen Wächter des Alltags senkten sich unmerklich. Dann der Nacken, der sich wie von selbst längte, als würde ein unsichtbarer Faden sie sanft nach oben ziehen.
Die Anspannung in ihrer Stirn, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie da war, schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Ihre Kiefermuskeln, so oft unbewusst zusammengepresst, lockerten sich. Sie spürte ihre Zunge, die entspannt im Mund lag, die Lippen, die sich zu einem kleinen, zufriedenen Lächeln formten.
Als sie ihre Haustür erreichte, fühlte sich Emili wie neugeboren. Der Regen hatte nachgelassen, nur noch ein feiner Nebel hing in der Luft. Sie drehte sich noch einmal um, blickte zurück auf die glänzenden Straßen, die erleuchteten Fenster, den dunklen Himmel.
Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer trat sie ein. Die Wärme des Hauses empfing sie wie eine Umarmung. Sie streifte die nassen Schuhe ab, hängte die tropfende Jacke auf und spürte, wie sich die letzten Reste der Anspannung aus ihrem Körper lösten. Ihre Beine fühlten sich angenehm schwer an, die Arme hingen locker an ihren Seiten.
In der Küche setzte sie Wasser für Tee auf. Während sie wartete, lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte und ließ ihren Blick zum Fenster wandern. Draußen glitzerten noch immer die Regentropfen im Licht der Straßenlaterne. Sie lächelte. Morgen würde kommen mit all seinen Anforderungen und Herausforderungen. Aber heute, jetzt, in diesem Moment, war sie einfach nur hier – entspannt, gelöst, im Frieden mit sich und der Welt.
Der Wasserkocher pfiff leise. Emili goss das heiße Wasser über den Teebeutel und beobachtete, wie sich die bernsteinfarbenen Schlieren im Wasser ausbreiteten. Ihre Hände umschlossen die warme Tasse, und sie spürte, wie sich die letzte Spannung aus ihren Fingern löste. Jeder Muskel in ihrem Körper hatte seinen Frieden gefunden, war weich geworden wie Butter in der Sonne.
Sie trug den Tee ins Wohnzimmer, kuschelte sich in die Decke auf dem Sofa. Draußen begann es wieder stärker zu regnen. Aber hier drinnen, warm und trocken, mit dem Duft von Kamillentee in der Nase und der Erinnerung an ihren Spaziergang im Herzen, war Emili vollkommen entspannt. Ihre Augenlider wurden schwer. Noch einen Moment lauschte sie dem Regen, dann glitt sie sanft in einen traumlosen, erholsamen Schlaf.
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