Jede Woche neue Geschichten zum Einschlafen

Kein Spam, kein Quatsch. Versprochen!

Erfolg! Überprüf jetzt deine E-Mails

To complete Subscribe, click the confirmation link in your inbox. If it doesn’t arrive within 3 minutes, check your spam folder.

Ok, danke
Sophie und Oskar - Teil 2: Der Aufbruch 8 Min. Lesezeit
Sophie und Oskar - Teil 2: Der Aufbruch Beitragsbild
Fernweh

Sophie und Oskar - Teil 2: Der Aufbruch

Sophie erwachte ohne Wecker, ihr Körper hatte gespürt, dass heute anders war. Das erste, was sie wahrnahm, war die Stille – nicht die bedrückende Stille der letzten Monate, sondern eine Stille voller Möglichkeiten.

Von Jannis

Photo by Patrick Robinson / Unsplash

Der Morgen brach sanft über die Stadt herein, ein zartes Rosa am Himmel, das sich allmählich in ein warmes Gold verwandelte. Sophie erwachte ohne Wecker, ihr Körper hatte gespürt, dass heute anders war. Das erste, was sie wahrnahm, war die Stille – nicht die bedrückende Stille der letzten Monate, sondern eine Stille voller Möglichkeiten.

Sie lag noch einen Moment da, betrachtete die Schatten an der Decke, die das erste Licht durch die Vorhänge malte. Heute würde sie Oskar beladen, heute würde die Reise beginnen. Der Gedanke durchströmte sie wie warmer Tee an einem kalten Morgen.

Die Dusche war kürzer als sonst, das Anziehen schneller. Jeans, die schon hundert Abenteuer erlebt hatten, ein alter Pullover, dessen Wolle weich geworden war von unzähligen Wäschen. In der Küche brühte sie sich einen starken Kaffee auf, füllte ihn in die Thermoskanne.

Eine Stunde später stand Sophie vor dem Hinterhof, den Schlüsselbund in der Hand. Das Tor quietschte leise, als sie es aufschob – ein vertrautes Geräusch, das heute wie eine Ouvertüre klang. Und da war er, ihr treuer Gefährte, im Morgenlicht noch schöner als in der Erinnerung.

Oskar stand zwischen zwei anderen Fahrzeugen, einem modernen SUV und einem eleganten Kombi, wie ein weiser alter Mann zwischen hastigen Geschäftsleuten. Sein cremefarbener Lack hatte über die Jahre eine warme Patina angenommen, hier und da zeigten sich kleine Rostflecken wie Altersflecken auf der Haut eines geliebten Großvaters. Die Stoßstange vorne links trug noch immer die Narbe eines Parkremples aus vergangenen Tagen, aber Sophie mochte diese Unperfektion – sie machte Oskar zu einem Individuum, nicht nur zu einem Fahrzeug.

Sie öffnete die Fahrertür, und der vertraute Duft strömte ihr entgegen – eine Mischung aus altem Vinyl, Motoröl und etwas, das sie nie hatte definieren können, aber das unverwechselbar nach Abenteuer roch. Das Lenkrad fühlte sich glatt an unter ihren Handflächen, abgegriffen von den Händen unzähliger Fahrerinnen und Fahrer vor ihr. Die Schalter und Knöpfe des Armaturenbretts hatten ihre ursprüngliche Beschriftung längst verloren, aber Sophie kannte jeden Griff, jede Eigenart.

Der Schlüssel glitt ins Zündschloss wie ein alter Freund, der nach Hause kommt. Sophie drehte ihn um, und Oskar erwachte zum Leben. Erst ein Zögern, ein leises Stottern, dann das vertraute Blubbern des Boxermotors. Das Geräusch füllte den stillen Hinterhof, rau und ehrlich, ein mechanisches Schnurren, das Sophie ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Beim Gasgeben antwortete der Motor prompt, wenn auch mit dem charakteristischen Verzögerung, die alle luftgekühlten Motoren eigen war.

Sie fuhr Oskar vor das Haus, parkte ihn dort, wo das Morgenlicht seine Flanken wärmte. Die Nachbarn würden staunen – der alte Bulli war selten so früh am Morgen zu hören. Aber Sophie kümmerte das nicht. Heute gehörte ihr die Zeit.

Das Beladen wurde zu einem Ritual. Kiste für Kiste trug sie aus dem Hausflur, jedes Stück fand seinen vorbestimmten Platz in Oskars geräumigem Inneren. Die schweren Sachen nach unten, nahe der Achse – Wasserkanister, Konserven, die Ersatzteile, die sie über die Jahre gesammelt hatte. Darüber die weicheren Gepäckstücke, Schlafsäcke und Kleidung, die sich an die Konturen des Laderaums anschmiegten wie Puzzleteile.

Die selbstgebaute Liegefläche nahm Form an, Zentimeter für Zentimeter. Die Matratze, die Sophie vor Jahren nach Maß hatte schneiden lassen, passte exakt zwischen die Seitenwände. Darauf das Bettzeug – Laken, die nach Lavendel rochen, eine Decke, die ihre Großmutter noch gestrickt hatte. Die kleinen Kissen, die schon so viele Nächte unter fremden Sternen erlebt hatten.

In den Hängeschränken verschwanden die Vorräte. Konserven klapperten leise, wenn Sophie sie einräumte, ein metallisches Versprechen auf warme Mahlzeiten unter freiem Himmel. Gewürze in kleinen Behältern, jeder beschriftet mit ihrer handgeschriebenen Etiketten. Nudeln, Reis, getrocknete Früchte. Die Grundausstattung für drei Wochen Unabhängigkeit.

Der Gaskocher fand seinen Platz auf der ausziehbaren Arbeitsplatte. Sophie testete ihn kurz, die blaue Flamme züngelte gleichmäßig – bereit für den ersten Kaffee am ersten norwegischen Morgen. Daneben stellte sie die Petroleumlampe, noch in ihre Wolldecke gehüllt, in die eigens dafür geschnitzte Halterung. Sie würde die Reise über sicher ruhen, bis sie wieder gebraucht wurde.

Die Gitarre schlüpfte in ihre Nische an der Seitenwand, wo sie während der Fahrt sicher verstaut war, aber schnell erreichbar für spontane Lagerfeuermomente. Die Hängematte rollte sich klein zusammen, fand Platz in einem der oberen Fächer. Die Bücher, jeder einzelne ein Versprechen auf ruhige Abende, stapelten sich in der kleinen Nische neben dem Bett.

Zuletzt kam die Kleidung. Sophie faltete jeden Pullover, jede Hose mit der Sorgfalt einer Geisha. Warme Sachen für kalte Nächte, leichte Baumwolle für sonnige Tage. Die Regenjacke, ohne die kein Skandinavien-Trip vollständig war – Sophie strich über das wasserabweisende Material und war sofort zurück an diesem einen Morgen am Geirangerfjord, vor drei Jahren. Es hatte sanft zu regnen begonnen, während sie noch in Oskar gelegen und dem Prasseln auf dem Dach gelauscht hatte. Andere hätten den Tag im Fahrzeug verbracht, aber Sophie war aufgestanden, hatte sich die Regenjacke übergezogen und war losgewandert.

Der Regen war nicht kalt gewesen, sondern warm und weich, fast zärtlich. Er hatte die Luft gereinigt, alle Düfte verstärkt – das Moos an den Felsen, die Birkenblätter, das kalte, klare Wasser des Sees. Mit jedem Schritt war sie tiefer in diese regenverhangene Welt eingetaucht, wo die Grenzen zwischen Himmel und Erde verschwammen. Der See hatte wie flüssiges Silber gewirkt, seine Oberfläche von unzähligen kleinen Kreisen gekräuselt, die entstanden und vergingen wie Gedanken.

Sie war stundenlang gewandert, durchnässt bis auf die Haut, aber glücklicher denn je. Der Regen hatte etwas Meditatives, hatte ihre Gedanken gewaschen wie die Landschaft um sie herum. Als sie schließlich zu Oskar zurückgekehrt war, dampfend und lachend, hatte sie sich gefühlt, als wäre sie neugeboren. Die Regenjacke hatte ihren Zweck erfüllt – nicht sie trocken gehalten, sondern ihr erlaubt, mit den Elementen zu tanzen, statt sich vor ihnen zu verstecken.

Als alles verstaut war, stand Sophie einen Moment still im Inneren von Oskar. Der Raum wirkte verwandelt – aus dem leeren Transportmittel war ein fahrendes Zuhause geworden. Jede Ecke hatte ihren Zweck, jedes Fach seine Berechtigung. Es roch nach Abenteuer und Aufbruch, nach sorgfältiger Planung und spontaner Freiheit zugleich.

Sie schloss die Schiebetür, hörte das vertraute Klacken des Riegels. Der Kofferraum war gepackt, die Sitze frei, das Lenkrad wartete auf ihre Hände. Sophie holte tief Luft. Es war Zeit.

Die ersten Kilometer durch die Stadt waren noch vertraut. Ampeln und Kreuzungen, die sie hundertfach passiert hatte. Andere Pendler auf dem Weg zur Arbeit, die sie mit neugierigen Blicken bedachten – wer fuhr schon an einem Dienstagmorgen mit einem vollbepackten Bulli durch die Innenstadt? Aber mit jedem Kilometer wurde das Stadtbild lockerer, die Häuser niedriger, die Abstände größer.

Sophie spürte, wie sich etwas in ihr löste. Das vertraute Gefühl der letzten Monate, immer in Eile, immer unter Druck, begann zu schwinden wie Nebel in der Morgensonne. Oskar tuckerte gemächlich dahin, sein Motor summte sein entspanntes Lied, und Sophie merkte, wie sie unbewusst ihre Schultern sinken ließ.

Die Autobahn führte sie zunächst nach Norden, vorbei an Industriegebieten, die allmählich Feldern und kleinen Wäldchen wichen. Der Verkehr wurde dünner, die Geschwindigkeit gleichmäßiger. Oskar mochte keine Eile, und Sophie hatte Zeit. Alle Zeit der Welt.

Nach der ersten Stunde machte sie Pause an einer Raststätte. Nicht, weil sie müde war, sondern weil sie es konnte. Sie parkte Oskar zwischen zwei Reisebussen, öffnete alle Türen und ließ die Frühlingsluft durchziehen. Während sie an ihrer Thermoskanne nippte, beobachtete sie die anderen Reisenden – gestresste Geschäftsleute am Handy, Familien mit quengelnden Kindern, Fernfahrer:innen, die mechanisch ihre Brote kauten. Sie alle schienen Ziele zu haben, Termine, Verpflichtungen. Sophie hatte nur eine Richtung: Norden.

Die Stunden verschmolzen zu einem sanften Rhythmus. Kilometer um Kilometer rollte unter Oskars Rädern hinweg, die Landschaft veränderte sich unmerklich aber stetig. Die Felder wurden größer, die Wälder dichter. Kleine Dörfer mit roten Ziegeldächern und weißen Kirchentürmen tauchten auf und verschwanden wieder im Rückspiegel. Die Luft, die durch die geöffneten Fenster strömte, trug neue Düfte – frisch gemähtes Gras, Wald, Ferne.

In einer kleinen Stadt irgendwo in Niedersachsen hielt Sophie für das Mittagessen. Nicht in einem Restaurant, sondern auf dem Parkplatz eines Supermarkts, unter den Schatten alter Linden. Sie bereitete ihr erstes Mahl in Oskar zu – eine einfache Suppe auf dem Gaskocher, dazu Brot und Hummus. Das Essen schmeckte anders als zu Hause, freier, ungebundener. Ein Vorgeschmack auf die kommenden Wochen.

Die Nachmittagsstunden glitten dahin wie träge Wolken am Himmel. Sophie fuhr durch Hamburg, sah die Elbe glitzern, fuhr weiter nach Norden. Die Landschaft wurde flacher, der Himmel weiter. Irgendwann begann sie, das Meer zu riechen – zunächst nur eine leise Ahnung in der Luft, dann immer deutlicher den salzigen, jodhaltigen Duft der Nordsee.

Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, als Sophie die dänische Grenze überquerte. Ein simples Schild am Straßenrand, aber für sie bedeutete es den ersten wirklichen Schritt ins Abenteuer.

Die dänische Landschaft empfing sie mit sanften Hügeln und endlosen Feldern. Windräder drehten sich träge in der Abendbrise, wie weiße Riesen, die den Himmel berührten. Die Straßen waren breiter als zu Hause, aber weniger befahren. Sophie konnte entspannt fahren, musste nicht ständig auf andere Verkehrsteilnehmer achten.

In einem kleinen Ort namens Løgstør machte sie eine längere Pause. Sie parkte Oskar direkt am Hafen, wo kleine Fischerboote schaukelten und die Möwen ihre kreisenden Bahnen zogen. Hier war das Licht anders als zu Hause – klarer, weiter, als würde es von der Unendlichkeit des Meeres verstärkt. Sophie spürte zum ersten Mal wirklich, dass sie im Norden war.

Sie bereitete sich einen Kaffee, lehnte sich an Oskars warme Karosserie und blickte über den Limfjord. Das Wasser spiegelte den Abendhimmel, Rosa und Orange tanzten auf den kleinen Wellen. Ein Fischer kam mit seinem Kutter herein, der Motor tuckerte im gleichen Rhythmus wie Oskars Herz. Die Zeit schien hier langsamer zu fließen, dickflüssiger, wie Honig.

Die letzten Kilometer nach Hirtshals führten durch eine Landschaft, die bereits nordisch wirkte. Dünen säumten die Straße, zwischen denen vereinzelt Kiefern wuchsen, vom Wind geformt und gebeugt. Die Luft schmeckte nach Salz und Abenteuer, nach unendlichen Weiten und fremden Horizonten.

Hirtshals empfing sie als kleine, geschäftige Hafenstadt. Überall standen Wohnmobile und Wohnwagen, beladen mit Kajaks und Fahrrädern, ihre Besitzer mit dem gleichen erwartungsvollen Blick in den Augen wie Sophie. Der Hafen war voller Leben – Fährschiffe, Fischerboote, Seemöwen, die kreischend um die Reste des Tagesfangs kämpften.

Sophie folgte den Schildern zur Fähre. Der Check-in war unkompliziert, die dänischen Hafenarbeiter:innen freundlich und entspannt. Sie dirigierten Oskar in eine Schlange wartender Fahrzeuge – andere Bullis, Wohnmobile, ein paar Motorräder mit schwer bepackten Seitentaschen. Alle mit dem gleichen Ziel: Norwegen.

Das Warten hatte etwas Meditatives. Sophie saß in Oskar, die Türen offen, und beobachtete die Vorbereitungen. Hafenarbeiter:innen in gelben Westen winkten die Fahrzeuge in Position, die Fähre lag wie ein schwimmender Berg am Kai, ihre Aufbauten ragten hoch in den Abendhimmel.

Als die Verladung begann, folgte Sophie den Anweisungen der Einweisenden. Oskar rollte über die Stahlrampe ins Innere des Schiffes, sein Motor hallte in dem großen, leeren Raum wider. Sie parkte ihn zwischen einem norwegischen Wohnwagen und einem deutschen Reisemobil, stellte den Motor ab und hörte die Handbremse einrasten.

Einen Moment saß sie noch da, in der plötzlichen Stille nach stundenlangem Motorengeräusch. Das erste Etappenziel war erreicht. Morgen würde sie in Kristiansand aufwachen, in Norwegen, dem Land ihrer Träume.

Sophie verließ Oskar mit dem notwendigsten Gepäck für die Überfahrt – einem Buch, einer warmen Jacke, ihrer Kamera. Sie verschloss die Türen, tätschelte liebevoll die warme Karosserie. "Bis morgen, alter Freund", flüsterte sie.

An Deck war die Luft frisch und salzig. Die Nordsee erstreckte sich bis zum Horizont, eine endlose Fläche aus graugrünem Wasser, über die der Abendwind kleine Schaumkronen trieb. Andere Passagiere standen am Geländer, die gleiche erwartungsvolle Ruhe in den Gesichtern.

Sophie fand einen geschützten Platz an der Backbordseite, lehnte sich an die Reling und spürte die ersten sanften Vibrationen des Schiffsmotors. Langsam löste sich die Fähre vom Kai, drehte sich in der Hafeneinfahrt und nahm Kurs auf den offenen Horizont.

Die dänische Küste blieb lange sichtbar, ein dunkler Strich am Horizont, der allmählich verschwamm und schließlich ganz verschwand. Nun war nichts mehr da als Wasser und Himmel, ein grenzenloser Raum, der Sophie mit einer tiefen Ruhe erfüllte.

Der Sonnenuntergang begann sich zu entfalten, aber nicht in der hastigen Art südlicher Breiten. Hier, so weit im Norden, dehnte sich die goldene Stunde zu einer goldenen Ewigkeit. Die Sonne hing wie ein glühender Ball am Horizont, schien zu zögern, als wolle sie nicht von diesem perfekten Moment lassen. Stunde um Stunde malte sie den Himmel in immer neue Nuancen – von hellem Gold zu tiefem Orange, von zartem Rosa zu flammendem Rot, und immer wieder zurück zu einem Gelb, das so warm und weich war wie flüssiger Honig.

Das Licht verwandelte die See in ein lebendiges Gemälde. Die Wellen trugen die Farben des Himmels in sich, reflektierten und brachen sie, schufen ein Kaleidoskop aus Licht und Bewegung, das mit jedem Augenblick neue Muster hervorbrachte. Sophie stand an der Reling und verlor jedes Zeitgefühl in dieser endlosen Dämmerung, in diesem Zwischenzustand zwischen Tag und Nacht, der im hohen Norden des Sommers zu Hause war.

Das Schiff bewegte sich in einem sanften, hypnotischen Rhythmus. Auf, ab, zur Seite, zurück – ein Tanz mit den Elementen, der so alt war wie die Seefahrt selbst. Die Motoren summten tief und gleichmäßig, ein mechanischer Herzschlag, der sie durch die Nacht tragen würde.

Sophie schloss die Augen und ließ sich von der Bewegung des Schiffes wiegen. In diesem Moment zwischen den Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, auf den sanften Wellen der Nordsee, war nichts wichtig außer diesem rhythmischen Schaukeln.

Fortsetzung folgt...

Kommentare