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Sophie und Oskar - Der Beginn einer langen Reise 8 Min. Lesezeit
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Fernweh

Sophie und Oskar - Der Beginn einer langen Reise

In der Ecke des Wohnzimmers warteten sie bereits – die Kisten und Taschen, die sie über die letzten Wochen heimlich zusammengestellt hatte. Kleine Fluchten zwischen Meetings und Präsentationen. Ein Gaskocher hier, eine Thermoskanne dort.

Von Jannis

Photo by Julian Hanslmaier / Unsplash

Die Abendluft trug bereits die Versprechen des nahenden Sommers, als Sophie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung aufschloss. Sechs Monate. Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie zum ersten Mal die schwere Glastür der Agentur durchschritten hatte, unsicher, ob sie der Herausforderung gewachsen sein würde.

Damals hatte sie noch die Schürze des Cafés in der Tasche getragen, die Hände rau vom ständigen Spülen, die Kreativität erstickt unter endlosen Bestellungen und dem Dampf der Espressomaschine. Sie hatte gewusst, dass sie mehr wollte, mehr konnte – dass irgendwo unter der Erschöpfung noch die Sophie steckte, die einst von Kampagnen und Konzepten geträumt hatte. Nun lag der Büroschlüssel schwer in ihrer Hand, während sie ihn auf die Kommode im Flur legte – dort würde er die nächsten drei Wochen ruhen.

Die Stille der Wohnung empfing sie wie eine alte Freundin. Sophie ließ die Schultern sinken, spürte, wie sich die Anspannung der letzten Wochen langsam löste, Schicht um Schicht, wie Farbe, die von einer alten Wand blättert. Das gedämpfte Licht der Abendsonne fiel durch die Vorhänge und malte warme Rechtecke auf den alten Dielenboden, dessen breite Eichenbretter im Laufe der Jahrzehnte eine honigfarbene Patina angenommen hatten.

Hier und da klafften kleine Fugen zwischen den Dielen, dunkle Linien wie die Lebenslinien einer Hand, in denen sich nicht nur der Staub vergangener Tage sammelte, sondern auch kleine Erinnerungen – ein verlorener Ohrring, Krümel von Mitternachtssnacks, die feinen Nadeln des Weihnachtsbaums vom letzten Dezember. Beim Gehen knarrten manche Stellen leise, besonders die Diele vor dem Küchenfenster, die jeden Morgen ihre vertraute Melodie sang, wenn Sophie barfuß zum Kaffeemachen schlich. Es war, als würde der Boden die Schritte all jener bewahren, die hier einst gelebt, geliebt und geträumt hatten.

In der Ecke des Wohnzimmers warteten sie bereits – die Kisten und Taschen, die sie über die letzten Wochen heimlich zusammengestellt hatte. Kleine Fluchten zwischen Meetings und Präsentationen. Ein Gaskocher hier, eine Thermoskanne dort. Jedes Stück sorgfältig ausgewählt in gestohlenen Mittagspausen, wenn sie statt in die Kantine zu gehen durch Outdoor-Läden streifte und von endlosen Straßen träumte.

Sophie kniete sich vor die erste Kiste, ihre Finger strichen über die raue Oberfläche des Kartons. Der Geruch von neuem Nylon mischte sich mit dem vertrauten Duft ihrer Wohnung – Kaffee, Bücher, das Lavendelöl, das sie manchmal abends auf ihr Kopfkissen träufelte, wenn der Schlaf nicht kommen wollte.

Die Wanderkarte Norwegens knisterte, als sie sie entfaltete. Fjorde und Berge breiteten sich vor ihr aus, blaue Adern durchzogen das Land wie ein komplexes Nervensystem. Beim Anblick der vertrauten Konturen schloss Sophie für einen Moment die Augen, und sofort war sie wieder dort – stand auf dem Preikestolen, fünf Jahre war es her, und spürte, wie die Weite sie verschluckte. Sie erinnerte sich an das schwindelerregende Gefühl, als sie zum ersten Mal verstand, was Unendlichkeit bedeutete: Der Lysefjord hatte sich unter ihr ausgebreitet wie ein riesiger, schlafender Drache, und der Wind hatte an ihren Haaren gezerrt, als wolle er sie mitnehmen in diese grenzenlose Freiheit. Damals hatte sie geweint – nicht aus Trauer, sondern weil sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben gleichzeitig winzig klein und unendlich groß gefühlt hatte, ein Staubkorn im Universum und doch Teil von allem. Diese Weite hatte etwas in ihr geöffnet, eine Tür, die seitdem nie wieder ganz zugegangen war. Ihre Fingerspitze folgte der Route, die sie sich ausgemalt hatte – von Oslo hinauf zum Nordkap, immer der Mitternachtssonne entgegen. Bei jedem Ortsnamen spürte sie ein kleines Ziehen in der Brust, eine Mischung aus Vorfreude und dem süßen Schmerz der Sehnsucht.

Das Packen wurde zu einer Meditation. Jeder Gegenstand erzählte eine Geschichte, trug ein Versprechen in sich. Die Stirnlampe für nächtliche Wanderungen unter dem Schein der Aurora Borealis. Der alte Pullover ihrer Großmutter, dessen Wolle nach Zuhause roch und der sie an Abende vor dem Kamin erinnerte. Die Thermoskanne, die schon so viele Abenteuer begleitet hatte, deren Delle an der Seite von einem Sturz in den schottischen Highlands zeugte.

Sophie hielt inne, als ihre Hand den kleinen Campingkocher berührte. Die Vorstellung, morgens vor Oskar zu sitzen, während der Kaffee auf dem kleinen Brenner blubberte und der Nebel sich langsam von den norwegischen Seen hob, ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Es war das erste echte Lächeln seit Wochen, eines, das nicht für Kollegen oder Kunden aufgesetzt war, sondern aus der Tiefe ihres Bauches kam.

Die Erschöpfung der letzten Monate saß noch in ihren Knochen. All die Überstunden, die steile Lernkurve, die Momente des Zweifels, wenn sie spätabends über Konzepten brütete und sich fragte, ob sie je gut genug sein würde. Wie oft hatte sie in Meetings gesessen, umgeben von Kollegen, die scheinbar mühelos Fachbegriffe jonglierten, während sie noch ihre Notizen nach der Bedeutung von KPIs und CTRs durchsuchte? Das Impostor-Syndrom hatte sie begleitet wie ein ungebetener Schatten – diese nagende Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie nur eine Hochstaplerin sei, eine ehemalige Barista, die sich in eine Welt verirrt hatte, in die sie nicht gehörte. Nachts hatte sie manchmal wach gelegen und sich gefragt, wann der Moment kommen würde, in dem alle erkennen würden, dass sie nur so tat, als wüsste sie, was sie da machte. Die Angst, bei der nächsten Präsentation bloßgestellt zu werden, hatte ihr manchmal die Kehle zugeschnürt. Die Einarbeitung war wie ein Marathon gewesen, bei dem das Ziel immer wieder in die Ferne gerückt schien. Aber sie hatte durchgehalten, hatte sich durchgebissen, und nun – nun durfte sie loslassen.

Draußen auf der Straße fuhr ein Auto vorbei, seine Scheinwerfer warfen wandernde Schatten an die Wand. Sophie stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Irgendwo dort draußen, in einem Hinterhof drei Straßen weiter, wartete Oskar. Ihr treuer Gefährte, der alte T3 Bulli mit seinem cremefarbenen Lack und dem charakteristischen Hochdach, auf dem sich die Geister unzähliger Aufkleber abzeichneten – verblasste Umrisse von Surfbrettern, Peace-Zeichen und Ortsnamen aus aller Welt, die seine Vorbesitzer vor Jahrzehnten dort verewigt hatten. Manche waren nur noch als helle Schatten zu erkennen, andere hinterließen klebrige Ränder, die Sophie nie ganz wegbekommen hatte. Sie mochte diese Spuren vergangener Abenteuer, die Oskar zu einem fahrenden Geschichtsbuch machten.

In Gedanken sah sie ihn vor sich: Die runde Frontscheibe mit dem kleinen Steinschlag links unten, der wie ein winziger Stern aussah. Die verchromten Stoßstangen, die trotz ihres Alters noch immer in der Sonne blitzten. Das Hochdach mit seinen milchigen Plexiglasfenstern, durch die das Morgenlicht so wunderbar diffus ins Innere fiel. Die Originalfelgen mit den charakteristischen VW-Emblemen, die Reifen mit dem groben Profil, bereit für skandinavische Schotterpisten. An der Heckklappe klebte noch immer der verwitterte "Baby on Board"-Aufkleber, obwohl Oskar schon lange keine junge Familie mehr transportierte, und daneben prangten die Reste eines "Atomkraft? Nein Danke"-Stickers in verblasstem Orange.

Sophie konnte bereits das kehlige Blubbern des luftgekühlten Boxermotors hören, dieses unverwechselbare Tuckern, das sich nach Freiheit anhörte. Wenn er morgens kalt ansprang, würde er erst widerwillig stottern, dann in seinen charakteristischen Rhythmus fallen – wie ein mechanisches Herz, das nach einer langen Nacht wieder zu schlagen beginnt. Sie liebte dieses Geräusch, das so gar nichts mit den sterilen Motoren moderner Autos zu tun hatte. Es war rau und ehrlich, manchmal ein bisschen unrund, aber immer voller Charakter.

Morgen würde sie die Schiebetür aufreißen und all ihre Schätze in Oskars Bauch verstauen. Die Kisten würden perfekt unter die selbstgebaute Liegefläche passen, die Gitarre in die Halterung an der Seitenwand. Der Gaskocher hatte seinen Stammplatz in der kleinen Küchenzeile, die der Vorbesitzer liebevoll eingebaut hatte – mit den originalen Resopal-Oberflächen in Orange-Braun, die so typisch für die 80er waren. In den Hängeschränken mit ihren klapprigen Magnetverschlüssen würden die Vorräte verstaut werden, und in der Ecke neben dem Klappwaschbecken würde die Thermoskanne ihren Platz finden, griffbereit für die erste Kaffeepause irgendwo an einem norwegischen See.

Morgen würde sie den Schlüssel umdrehen, und der Motor würde sein vertrautes Brummen anstimmen. Die Stadt würde im Rückspiegel kleiner werden, bis sie nur noch eine Erinnerung war. Vor ihnen würden sich die Straßen öffnen wie die Seiten eines noch ungeschriebenen Buches.

Sophie kehrte zu ihren Kisten zurück. Die Schlafsäcke rochen nach Abenteuer und Freiheit, ihre Dauenfüllung raschelte leise, als sie sie in die wasserdichten Packsäcke stopfte. Die Hängematte aus bunter Fallschirmseide faltete sie sorgfältig zusammen – wie oft hatte sie schon zwischen norwegischen Birken gebaumelt, während Sophie darin lag und den Wolken beim Vorbeiziehen zusah?

Dann kamen die Bücher – ihr tragbarer Schatz. Der zerlesene Band mit norwegischen Volksmärchen, dessen Seiten sich bereits wellten. Knut Hamsuns "Hunger" in der Originalausgabe, die sie in einem Osloer Antiquariat gefunden hatte. Ein Reisetagebuch mit leerem Ledereinband, bereit für neue Einträge. Sie wickelte jeden Band einzeln in ein weiches Tuch, bevor sie sie in die Kiste legte.

Zuletzt holte sie die Petroleumlampe hervor, ihr kostbarstes Stück. Sophie ließ ihre Finger über das warme Messing gleiten, das sie stundenlang poliert hatte, bis es wieder golden schimmerte. Sie hatte die Lampe vor zwei Jahren in einem verstaubten Schrank in Oskars Heck gefunden, versteckt hinter alten Landkarten und einer verrosteten Werkzeugkiste. Der Docht war verkohlt gewesen, das Glas rußgeschwärzt, aber Sophie hatte gespürt, dass diese Lampe Geschichten zu erzählen hatte. Wochenlang hatte sie daran gearbeitet – neuen Docht eingezogen, das Glas mit Zeitungspapier und Asche gereinigt, bis es wieder klar war, die Mechanik geölt.

Beim ersten Anzünden hatte die Flamme gezuckt und getanzt, als erwache die Lampe aus einem langen Schlaf. Das warme, goldene Licht hatte Oskars Inneres in eine andere Zeit versetzt, hatte Schatten tanzen lassen und eine Atmosphäre geschaffen, die keine LED je erreichen könnte. Seitdem war die Lampe auf jeder Reise dabei gewesen – hatte in sternenklaren Nächten auf dem kleinen Klapptisch gestanden, während Sophie las, hatte ihr Gesellschaft geleistet, wenn der Regen auf Oskars Dach trommelte. Es war ein lebendiges Licht, das flackerte und atmete, das die Dunkelheit nicht einfach vertrieb, sondern sie in etwas Warmes, Beschützendes verwandelte.

Behutsam wickelte Sophie die Lampe in eine alte Wolldecke. Morgen würde sie ihren Ehrenplatz im Regal über dem Fahrersitz einnehmen, bereit, auch in Skandinavien ihr besonderes Licht zu spenden. Jedes Teil fand seinen Platz in der sorgfältig geplanten Choreografie des Packens, ein Puzzle aus Erinnerungen und Vorfreude.

Als die Dunkelheit vollends hereingebrochen war, saß Sophie inmitten ihrer Ausrüstung. Die Wohnung wirkte schon jetzt anders, als hätte sie begonnen, sich von ihr zu verabschieden. Die Zimmerpflanzen waren gegossen, die Nachbarin instruiert. In wenigen Stunden würde der Wecker klingeln.

Sophie spürte, wie die Vorfreude langsam ihre Form veränderte. Was eben noch als kribbelnde Energie durch ihre Adern gepulst hatte, begann sich zu wandeln, wurde weicher, ruhiger. Die Gedanken an die endlosen Straßen, die vor ihr lagen, wirkten wie ein Beruhigungsmittel. Sie stellte sich vor, wie sie morgen Kilometer um Kilometer die Stadt hinter sich lassen würde, wie die Häuser niedriger, die Abstände größer werden würden. Wie sich ihr Blick weiten könnte, ohne an Mauern zu stoßen.

Die Vorstellung der norwegischen Weite legte sich wie eine sanfte Decke über ihre Schultern. Dort oben würde es Tage geben, an denen sie stundenlang fahren könnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Nur sie, Oskar und die Landschaft. Keine E-Mails, keine Deadlines, keine Meetings. Nur das rhythmische Brummen des Motors und der Wind, der durch das geöffnete Dreiecksfenster pfiff.

Sophie merkte, wie ihre Augenlider schwerer wurden. Die Anspannung der letzten Monate löste sich nicht nur – sie schmolz förmlich dahin, wie Schnee in der Frühlingssonne. Ihr Körper, der so lange im Alarmzustand gewesen war, erkannte endlich, dass die Schlacht geschlagen war. Sie hatte es geschafft. Die Projekte waren abgeschlossen, die Übergaben erledigt. Nun durfte sie loslassen.

Ein Gähnen überkam sie, tief und befreiend. Die Müdigkeit kam in Wellen, warm und einladend. Sie dachte an die erste Nacht in Oskar, irgendwo an einem stillen See, nur das Plätschern des Wassers und vielleicht der Ruf eines Seetauchers in der Ferne. Diese Stille, die so anders war als die Stille ihrer Wohnung – eine Stille, die nicht leer war, sondern erfüllt von der Präsenz der Natur.

Ihre Glieder wurden schwer, angenehm schwer. Es war, als würde die bloße Vorstellung der skandinavischen Weite bereits jetzt Raum in ihr schaffen, Raum zum Atmen, zum Sein. Die Enge der letzten Monate, das ständige Gefühl, nicht genug zu sein, nicht schnell genug, nicht gut genug – all das würde sie morgen mit jedem Kilometer mehr hinter sich lassen.

Sie lehnte sich gegen die Wand, zog die Knie an die Brust und erlaubte sich, die Augen zu schließen. In ihrer Vorstellung hörte sie bereits das Rauschen des Windes durch Oskars geöffnete Fenster, schmeckte die salzige Luft der norwegischen Küste, spürte die Freiheit, die nur offene Straßen schenken können.

Die Anspannung der letzten Monate begann sich aufzulösen wie Zucker im Regen. Sophie lächelte in die Dunkelheit. Morgen würde ein neues Kapitel beginnen. Sie und Oskar und die endlosen Straßen Skandinaviens. Nach all der harten Arbeit hatte sie sich diese Auszeit verdient – jeden einzelnen Kilometer davon.

Fortsetzung folgt..

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