Jede Woche neue Geschichten zum Einschlafen

Kein Spam, kein Quatsch. Versprochen!

Erfolg! Überprüf jetzt deine E-Mails

To complete Subscribe, click the confirmation link in your inbox. If it doesn’t arrive within 3 minutes, check your spam folder.

Ok, danke
Ein neuer Feierabend 7 Min. Lesezeit
Ein neuer Feierabend Beitragsbild
Alltag

Ein neuer Feierabend

Die Bildschirmhelligkeit hatte sich bereits dreimal automatisch angepasst, ein stummer Zeuge der verstreichenden Stunden. Marlene rieb sich die Schläfen, ihre Finger fanden die vertrauten Druckpunkte, wo sich die Anspannung des Tages wie eine zweite Haut über ihre Stirn gelegt hatte.

Von Jannis

Photo by BRUNO CERVERA / Unsplash

Die Bildschirmhelligkeit hatte sich bereits dreimal automatisch angepasst, ein stummer Zeuge der verstreichenden Stunden. Marlene rieb sich die Schläfen, ihre Finger fanden die vertrauten Druckpunkte, wo sich die Anspannung des Tages wie eine zweite Haut über ihre Stirn gelegt hatte. Das letzte Meeting war vorbei, die E-Mails beantwortet, die Präsentation für morgen lag fertig im digitalen Ordner – und doch vibrierte noch immer diese nervöse Energie durch ihren Körper, als hätte sie vergessen, wie man den Arbeitsmodus ausschaltet.

Aus dem Wohnzimmer drang ein leises Winseln. Bruno, ihr dreijähriger Golden Retriever, hatte seine innere Uhr nie an die Eigenarten des Homeoffice angepasst. Für ihn existierte nur eine Wahrheit: Wenn das Licht draußen zu diesem besonderen Goldton wurde, war es Zeit.

Marlene erhob sich vom Schreibtischstuhl, und ihre Wirbelsäule protestierte mit einem leisen Knacken. Wie lange hatte sie heute in derselben Position verharrt? Die Zahlen auf dem Fitnesstracker verrieten es ihr – 127 Schritte seit dem Mittagessen. Ein digitales Armutszeugnis ihrer Bewegungsarmut.

Die Leine hing an ihrem angestammten Platz neben der Tür, das abgewetzte Leder trug die Spuren unzähliger Spaziergänge. Bruno war bereits zur Stelle, sein Schwanz peitschte in einem Rhythmus, der keine Widerrede duldete. Seine bernsteinfarbenen Augen fixierten sie mit einer Intensität, die nur Hunde beherrschen – diese Mischung aus Vorfreude und sanftem Vorwurf.

Als sie die Haustür öffnete, strömte die Abendluft herein wie eine Offenbarung. Nach den klimatisierten achtundzwanzig Quadratmetern ihres Arbeitszimmers fühlte sich die Außenwelt fast unwirklich an. Der Wind trug den Duft frisch gemähten Grases heran, vermischt mit dem erdigen Aroma feuchter Erde – es hatte am Nachmittag geregnet, während sie in ihrer vierten Videokonferenz gesessen hatte.

Die ersten Schritte auf dem Kiesweg knirschten unter ihren Sohlen. Ein Geräusch, so banal und doch so bedeutsam nach Stunden der Stille, unterbrochen nur vom Klackern der Tastatur und dem gedämpften Summen des Laptoplüfters. Bruno zerrte sanft an der Leine, nicht fordernd, sondern einladend, als wollte er sagen: Komm, ich zeige dir, was du verpasst hast.

Der Weg führte sie durch die vertraute Nachbarschaft, vorbei an Häusern, deren Fenster nun zu leuchten begannen – kleine Theater des Alltags, in denen sich ähnliche Geschichten abspielten. Hinter manchen Scheiben erkannte sie die bläulichen Rechtecke anderer Bildschirme, stumme Zeugen einer Welt, die niemals schläft.

Aber mit jedem Schritt löste sich etwas in ihr. Die Schultern, die sie unbewusst hochgezogen hatte, sanken langsam nach unten. Der Atem, flach und hastig vom Tag, wurde tiefer. Sie spürte, wie die kühle Luft ihre Lungen füllte, wie sie durch ihre Nase strömte und dabei all die Nuancen des Abends mittrug.

Am Waldrand angekommen, ließ sie Bruno von der Leine. Er schoss davon wie ein goldener Blitz, nur um nach wenigen Metern innezuhalten und sich umzudrehen, als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da war. Seine Freude war so rein, so ungefiltert, dass Marlene unwillkürlich lächeln musste – das erste echte Lächeln des Tages, nicht das professionelle Kamera-Lächeln der Meetings.

Der Waldboden unter ihren Füßen war weich vom Regen. Moos und Laub dämpften ihre Schritte, und die Bäume über ihr bildeten ein Dach aus Grün, durch das das Abendlicht in goldenen Strahlen fiel. Es war, als betrete sie eine Kathedrale der Natur, einen heiligen Raum, in dem die Hektik des digitalen Alltags keine Macht hatte.

Die Geräusche hier waren anders. Das Rascheln der Blätter im Wind, das ferne Klopfen eines Spechts, das Knacken von Ästen unter Brunos Pfoten, während er durchs Unterholz streifte. Eine Symphonie des Lebendigen, die keine Kopfhörer der Welt reproduzieren konnten.

Sie fand ihren Lieblingsplatz – einen umgestürzten Baumstamm am Rande einer kleinen Lichtung. Das Holz war von der Zeit geglättet, von Regen und Sonne zu einer natürlichen Bank geformt. Als sie sich setzte, spürte sie die Feuchtigkeit durch den Stoff ihrer Jeans dringen, aber es störte sie nicht. Es war real, greifbar, anders als die sterile Perfektion ihres Bürostuhls.

Wie unterschiedlich diese beiden Sitzgelegenheiten waren! Ihr ergonomischer Bürostuhl zu Hause – eine zweihundert Euro teure Anschaffung mit Memory-Foam-Polsterung, verstellbarer Lordosenstütze und atmungsaktivem Meshgewebe. Ein Triumph der Ingenieurskunst, entwickelt, um den menschlichen Körper in perfekter Haltung zu fixieren. Die Armlehnen auf exakt 90 Grad justiert, die Sitzhöhe millimetergenau eingestellt, damit ihre Augen im optimalen Winkel auf den Bildschirm blickten. Alles daran war kalkuliert, optimiert, auf Effizienz getrimmt. Die Oberfläche immer gleichmäßig temperiert, weder zu warm noch zu kalt, ein neutrales Nichts, das keine Empfindung zuließ außer der Abwesenheit von Unbehagen.

Dieser Baumstamm hingegen – rau unter ihren Handflächen, mit Rillen und Furchen, die von Jahrzehnten des Wetters erzählten. Die Rinde an manchen Stellen abgeblättert, an anderen noch fest mit dem Holz verwachsen. Moospolster, die sich wie winzige Samtkissen anfühlten, wenn sie mit den Fingern darüberstrich. Die Feuchtigkeit, die nun langsam durch ihre Jeans sickerte, war keine gleichmäßige Nässe, sondern kam in kleinen Wellen – hier, wo das Moos besonders dicht wuchs, dort, wo sich in einer Vertiefung Regenwasser gesammelt hatte. Es war unbequem auf eine Art, die sie längst vergessen hatte – unbequem und doch lebendig, wie ein Händedruck der Natur, fest und ehrlich.

Bruno kam zu ihr getrottet, sein Fell voller kleiner Zweige und Blätter, die Zunge hing ihm aus dem Maul. Er legte seinen Kopf auf ihr Knie, und sie fuhr mit der Hand durch sein weiches Fell. Die Wärme seines Körpers, der gleichmäßige Rhythmus seines Atems – es war wie eine Meditation ohne Anleitung, ohne App, ohne Zeitlimit.

Die Sonne stand nun tief, malte lange Schatten auf den Waldboden. Das Licht hatte diese besondere Qualität, die nur die goldene Stunde besitzt – warm und weich, als würde die Welt durch einen Honigfilter betrachtet. Die Konturen der Bäume verschwammen, wurden zu Schattenrissen gegen den sich färbenden Himmel.

In der Ferne hörte sie das Läuten der Kirchenglocken aus dem Dorf. Sieben Schläge – hatte sie wirklich so lange hier gesessen? Die Zeit hatte eine andere Qualität angenommen, war nicht mehr in Meetings und Deadlines unterteilt, sondern floss wie der Bach, den sie in der Nähe plätschern hörte.

Ein Reh trat auf die Lichtung, vorsichtig, jeden Muskel angespannt. Zuerst sah Marlene nur die zuckenden Ohren zwischen den Farnen, dann schob sich langsam der elegante Kopf hervor. Die großen dunklen Augen scannten die Umgebung, die Nüstern bebten, nahmen jeden Geruch auf. Ein Vorderhuf tastete sich vor, verharrte in der Luft, bevor er behutsam auf dem weichen Waldboden aufsetzte. Das Tier trug sein Sommerkleid, rotbraun mit einem Hauch von Gold, wo die letzten Sonnenstrahlen das Fell streiften.

Bruno hob den Kopf, seine Ohren stellten sich auf, aber er blieb ruhig an ihrer Seite. Ein leises Winseln entwich ihm, mehr Neugier als Jagdtrieb, und Marlene legte sanft ihre Hand auf seinen Nacken. Das Reh erstarrte bei der Bewegung, jeder Muskel zum Sprung bereit, der weiße Spiegel am Hinterteil zuckte nervös.

Sekunden verstrichen wie Minuten. Das Reh schnaubte leise, ein weißes Wölkchen in der kühlenden Abendluft. Dann, als weder Mensch noch Hund sich rührten, entspannte sich seine Haltung unmerklich. Die Ohren, die eben noch in alle Richtungen rotierten, richteten sich nach vorn. Der erhobene Huf senkte sich vollständig zu Boden.

Schritt für Schritt wagte sich das Tier weiter auf die Lichtung. Der Schwanz, der zuerst steif abstand, begann leicht zu pendeln. Marlene konnte jetzt die feinen Details erkennen – die langen Wimpern, die das Auge umrahmten, die samtige Schnauze, die sich neugierig in ihre Richtung reckte. Das Reh senkte sogar für einen Moment den Kopf, rupfte ein paar Grashalme, kaute bedächtig, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Es war ein junges Tier, vielleicht zweijährig, noch nicht ganz ausgewachsen. Die Bewegungen hatten etwas Tänzerisches, als es einen Schritt zur Seite machte, um an ein besonders saftiges Grasbüschel zu gelangen. Die anfängliche Fluchtbereitschaft wich einer vorsichtigen Akzeptanz ihrer Anwesenheit.

Bruno seufzte leise und legte seinen Kopf wieder auf Marlenes Knie. Diese kleine Geste schien das letzte Signal zu sein, das das Reh brauchte. Es wandte sich halb ab, äste noch einen Moment friedlich am Rand der Lichtung, als wären sie Teil der natürlichen Ordnung, keine Eindringlinge, sondern Mitbewohner dieses Abendfriedens.

Dann hob es plötzlich den Kopf, die Ohren zuckten nach hinten – es hatte etwas gehört, was Marlene entging. Mit drei eleganten Sprüngen, bei denen die weißen Innenseiten der Läufe aufblitzten, war es zwischen den Bäumen verschwunden. Noch einen Moment lang konnte sie das Knacken der Zweige hören, dann verschluckte der Wald das Geräusch, als wäre das Reh nie dagewesen.

Marlene atmete tief ein. Der Duft des Waldes füllte ihre Nase – Harz und feuchte Erde, wilde Blumen und das herbe Aroma von Pilzen, die im Verborgenen wuchsen. Ihre Haut prickelte von der kühlen Abendluft, aber es war ein angenehmes Gefühl, als würde ihr Körper wieder erwachen.

Langsam erhob sie sich. Bruno sprang auf, bereit für den Rückweg, aber ohne die Ungeduld von vorhin. Auch er schien die Ruhe in sich aufgenommen zu haben. Der Weg zurück fühlte sich anders an. Ihre Schritte waren sicherer, ihr Gang entspannter. Die Last des Tages hatte sie irgendwo zwischen den Bäumen zurückgelassen.

Als sie wieder die ersten Häuser erreichten, hatte sich die Welt verändert. Die Straßenlaternen waren angegangen, warfen ihre orangefarbenen Kreise auf den Asphalt. Aus offenen Fenstern drangen Kochgerüche – Zwiebeln, die in Butter brutzelten, frisch gebackenes Brot, Kräuter, die jemand auf dem Balkon züchtete.

Vor ihrem Haus blieb sie einen Moment stehen. Durch das Fenster konnte sie ihren Schreibtisch sehen, den Bildschirm im Standby-Modus, die Papiere, die noch immer dort lagen, wo sie sie zurückgelassen hatte. Aber es fühlte sich an wie eine andere Welt, eine, zu der sie erst morgen zurückkehren würde.

Bruno stupste sie sanft mit der Schnauze an, als wollte er sagen: Wir sind zu Hause. Sie öffnete die Tür, und er trottete hinein, direkt zu seinem Wassernapf. Das Geräusch, wie er trank – dieses schlabbernde, ungehemmte Genießen – brachte sie erneut zum Lächeln.

Sie streifte ihre Schuhe ab, spürte den kühlen Holzboden unter ihren Socken. Die Spannungskopfschmerzen waren verschwunden, ersetzt durch eine angenehme Müdigkeit, die sich wie eine warme Decke um sie legte. In der Küche füllte sie den Wasserkocher, das Gluckern des Wassers mischte sich mit Brunos zufriedenem Seufzen, als er sich auf seinem Platz zusammenrollte.

Während sie auf das kochende Wasser wartete, blickte sie aus dem Küchenfenster. Der Himmel hatte sich in ein tiefes Violett gefärbt, die ersten Sterne begannen zu funkeln. Irgendwo bellte ein Hund, ein Auto fuhr vorbei, das Leben ging weiter in seinem ewigen Rhythmus.

Der Tee dampfte in ihrer Tasse, und sie umschloss sie mit beiden Händen, spürte die Wärme durch das Porzellan. Es war derselbe Tee wie jeden Abend, aber er schmeckte anders – intensiver, als hätten ihre Sinne durch den Spaziergang neue Schärfe gewonnen.

Sie setzte sich aufs Sofa, Bruno zu ihren Füßen. Kein Laptop, kein Smartphone, nur sie, ihr Hund und die Stille des Abends. Morgen würde der Bildschirm wieder leuchten, würden die E-Mails warten, würden die Meetings sich aneinanderreihen. Aber jetzt, in diesem Moment, existierte nur die Gegenwart – der warme Tee, das gleichmäßige Atmen ihres Hundes, die Ruhe, die sich wie Balsam über ihre Seele legte.

Draußen ging ein später Spaziergänger vorbei, auch er mit Hund. Sie erkannte die Silhouetten im Schein der Straßenlaterne, wusste, dass auch dieser Mensch vielleicht gerade seine eigene kleine Flucht aus dem Alltag erlebte. Es war ein stiller Gruß unter Gleichgesinnten, die die heilende Kraft dieser abendlichen Rituale kannten.

Der Mond warf sein silbernes Licht durch die Vorhänge, und irgendwo in der Ferne heulte ein Hund. Bruno hob kurz den Kopf, ließ ihn dann aber wieder auf seine Pfoten sinken. Die Nacht senkte sich über das Haus, und mit ihr kam der Frieden – hart erkämpft, Schritt für Schritt, auf einem ganz gewöhnlichen Abendspaziergang.

Kommentare