Die falsche Adresse
Emma rieb sich über die Augen. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen zu abstrakten Mustern, kleine leuchtende Hieroglyphen, die ihre Bedeutung im Nebel der Erschöpfung verloren.
Das Bürogebäude atmete in der Stille der späten Stunden anders. Die Klimaanlage hatte ihren eiligen Tageston verloren, summte nun wie ein fernes Insekt in den leeren Fluren. Durch die großen Fenster fiel das Licht der Stadt herein, brach sich in den Glasflächen der Schreibtische, verwandelte die gewöhnlichen Oberflächen in einen Archipel aus matten Reflexionen.
Emma rieb sich über die Augen. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen zu abstrakten Mustern, kleine leuchtende Hieroglyphen, die ihre Bedeutung im Nebel der Erschöpfung verloren. Ihre Finger ruhten auf der Tastatur, warm vom stundenlangen Tippen, und sie spürte, wie die Müdigkeit sich in ihren Handgelenken festgesetzt hatte – ein dumpfes Pochen, das den Rhythmus ihres Herzschlags nachzeichnete.
Draußen zogen Lichter ihre Bahnen durch die Dunkelheit. Autos auf der Stadtautobahn, Fenster in den umliegenden Hochhäusern, die Leben hinter Glas versprachen. Emma fragte sich manchmal, ob andere Menschen dort saßen wie sie, gefangen in diesem seltsamen Zwischenraum zwischen Tag und Nacht, zwischen Pflicht und dem Wunsch nach etwas Unbenanntem.
Die E-Mail war eigentlich einfach. Ein kurzer Bericht, ein paar Anhänge, an ihren Vorgesetzten gerichtet. Ihre Finger bewegten sich mechanisch über die Tastatur, trugen Buchstaben in das leere Feld der Empfängeradresse. Müller, begann sie zu tippen, und das System vervollständigte automatisch. Sie klickte auf den ersten Namen in der Liste, ohne ihn wirklich zu lesen, und drückte auf "Senden".
Der kleine Whoosh-Laut des verschickten E-Mails klang wie das Flattern eines Vogels, der in die Nacht entlassen wurde.
Erst Minuten später, als Emma ihre Tasse Kaffee – längst kalt geworden, mit einer dünnen Haut auf der Oberfläche – an ihre Lippen hob, fiel ihr Blick auf den Ordner "Gesendet". Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Nicht Müller, Martin. Müller, Leonhard. Ein Name, den sie kannte, aber nicht gut. Jemand aus der Finanzabteilung, drei Stockwerke tiefer, ein Gesicht in der Kantine, ein gelegentliches Nicken im Aufzug.
Die Peinlichkeit breitete sich warm in ihrem Nacken aus.
Bevor sie darüber nachdenken konnte, öffnete sie ein neues Fenster und begann zu tippen: "Lieber Herr Müller, entschuldigen Sie bitte die Verwirrung. Die vorherige E-Mail war nicht für Sie bestimmt. Ich hoffe, sie hat Sie nicht gestört. Mit freundlichen Grüßen, Emma Schneider."
Sie schickte die Nachricht ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das Polster knarrte leise, ein vertrautes Geräusch in der Stille.
Die Antwort kam schneller, als sie erwartet hatte. Das kleine Pop-up erschien in der Ecke ihres Bildschirms, und Emma klickte darauf mit einer Mischung aus Neugier und Resignation.
"Liebe Frau Schneider, kein Problem. Ich bin auch noch hier und war ehrlich gesagt dankbar für die Ablenkung. Manchmal helfen einem die falschen E-Mails mehr als die richtigen. Ich hoffe, Ihr Abend im Büro ist nicht zu anstrengend. LM"
Emma las die Worte zweimal. Es war nicht die formelle Antwort, die sie erwartet hatte. Etwas in dem Ton, in der Art, wie die Buchstaben sich zu Sätzen formten, trug eine unerwartete Wärme. Sie schaute auf die Uhr in der Ecke ihres Bildschirms. 22:47.
Ihre Finger schwebten über der Tastatur. Normalerweise hätte sie hier gestoppt, hätte ein höfliches "Danke für Ihr Verständnis" geschrieben und das Thema beendet. Aber die Stille des Büros, die Müdigkeit, die in ihren Knochen saß, und etwas in dieser unerwarteten Freundlichkeit ließen sie weiterschreiben.
"Danke für Ihre Nachsicht. Und ja, es ist einer dieser Abende, an denen man sich fragt, ob die Zahlen auf dem Bildschirm wichtiger sind als der Schlaf, den man verpasst. Aber morgen gibt es eine Deadline, und die Deadline wartet nicht. Warum sind Sie noch hier?"
Sie zögerte, bevor sie auf "Senden" drückte. Es war persönlicher, als sie normalerweise mit Kollegen sprach, besonders mit jemandem, den sie kaum kannte. Aber die späte Stunde hatte etwas Entgrenzendes, als ob die üblichen Regeln sich mit dem Tageslicht zurückgezogen hätten.
Die Antwort kam nach wenigen Minuten. Emma hatte sich inzwischen zum Fenster gedreht, betrachtete die Stadt, die unter ihr lag wie ein Organismus aus Licht und Schatten. Die Straßen bildeten leuchtende Adern, pulsierten mit dem Verkehr, der auch um diese Uhrzeit nicht zur Ruhe kam.
"Quartalsabschluss. Die übliche Geschichte – Zahlen, die nicht aufgehen wollen, und die stille Hoffnung, dass sich irgendwo zwischen den Excel-Zeilen ein Fehler versteckt, der alles erklärt. Aber ehrlich gesagt sitze ich gerade hier und frage mich, wann aus 'nur noch diese eine Sache' ein ganzes Leben geworden ist. Entschuldigung, das ist wahrscheinlich zu philosophisch für eine versehentliche E-Mail. LM"
Emma spürte, wie etwas in ihrer Brust sich weitete. Sie kannte dieses Gefühl, dieses leise Unbehagen, das in den stillen Momenten auftauchte, wenn die Ablenkung der Arbeit nachließ und nur die Frage blieb: Ist das alles?
"Nicht zu philosophisch", schrieb sie zurück. "Ich denke oft dasselbe. Manchmal schaue ich aus dem Fenster und sehe all diese Lichter und frage mich, ob andere Menschen auch das Gefühl haben, dass das Leben irgendwie an ihnen vorbeizieht, während sie beschäftigt sind, Dinge zu erledigen, die morgen niemand mehr erinnern wird. Was wollten Sie eigentlich werden, als Sie jung waren? Bevor die Deadlines kamen?"
Die Frage überraschte sie selbst. So etwas fragte man nicht. Nicht Kollegen, nicht um diese Uhrzeit, nicht in E-Mails. Aber die Worte waren schon unterwegs, digitale Vögel in der Nacht.
Die Antwort ließ länger auf sich warten. Emma stellte sich vor, wie Leonhard Müller, drei Stockwerke unter ihr, vor seinem eigenen Bildschirm saß, vielleicht auch am Fenster, vielleicht auch mit einer Tasse kalten Kaffees. Sie stellte sich vor, wie er über die Frage nachdachte, wie seine Finger über die Tastatur schwebten, suchten nach den richtigen Worten.
"Architekt", stand schließlich auf ihrem Bildschirm. "Ich wollte Häuser bauen, Räume schaffen, in denen Menschen sich wohlfühlen. Stattdessen baue ich Finanzmodelle und Budgetprognosen. Es ist nicht ganz dasselbe, auch wenn beide Tätigkeiten mit Strukturen zu tun haben. Und Sie? Was war Ihr Traum, bevor das Büro zur Realität wurde?"
Emma lehnte sich zurück. Der Stuhl knarrte wieder, und sie schloss für einen Moment die Augen. Das Summen der Klimaanlage wurde zu einem Meer, die Tastatur zu Kieselsteinen am Strand. Was hatte sie gewollt?
"Journalistin", tippte sie. "Ich wollte Geschichten erzählen, die Welt sehen, Menschen treffen und ihre Stimmen festhalten. Stattdessen schreibe ich Berichte über Marktanalysen und Umsatzprognosen. Manchmal denke ich, dass ich trotzdem Geschichten erzähle, nur dass niemand sie lesen will, weil sie in PowerPoint-Präsentationen versteckt sind."
Sie lächelte, obwohl niemand da war, der es sehen konnte.
"Vielleicht", schrieb Leonhard zurück, "sind wir alle nur Architekten und Journalisten in einem anderen Format. Ich baue immer noch Strukturen, Sie erzählen immer noch Geschichten. Nur dass die Welt uns beigebracht hat, sie auf eine Weise zu tun, die sich nicht wie unsere Träume anfühlt. Aber manchmal, in Momenten wie diesem, kann man vielleicht beide Versionen von sich selbst gleichzeitig sein. Der Mensch, der man geworden ist, und der Mensch, der man sein wollte."
Emma las die Worte mehrmals. Draußen hatte sich der Verkehr weiter verdünnt. Die Lichter in den umliegenden Gebäuden waren weniger geworden, schwarze Rechtecke, die sich zwischen die leuchtenden schoben. Die Stadt begann, ihren nächtlichen Rhythmus zu finden, langsamer, tiefer, wie der Atem eines schlafenden Riesen.
"Das ist eine schöne Art, es zu sehen", schrieb sie. "Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist die Person, die wir im Licht der Bürolampen sind, nicht so weit entfernt von der Person, die wir im Sonnenlicht hätten sein wollen. Nur anders verpackt."
Sie machte eine Pause, ihre Finger ruhten auf den Tasten. "Danke, Herr Müller. Für dieses Gespräch. Es ist seltsam, wie eine falsche E-Mail zu etwas führen kann, das sich richtiger anfühlt als die meisten Unterhaltungen, die ich in letzter Zeit hatte."
"Leonhard", kam die Antwort. "Und ich sollte derjenige sein, der sich bedankt. Emma. Manchmal braucht man jemanden, der versteht, ohne dass man alles erklären muss. Jemanden, der auch noch hier ist, wenn der Rest der Welt schon schläft. Ich hoffe, Sie kommen gut nach Hause heute Nacht. Und wer weiß – vielleicht treffen wir uns mal in der Kantine und können über etwas anderes sprechen als Excel-Tabellen."
Emma lächelte wieder, breiter diesmal. "Das würde ich mögen. Gute Nacht, Leonhard. Und viel Erfolg mit den Zahlen, die nicht aufgehen wollen."
"Gute Nacht, Emma. Mögen Ihre Deadlines gnädig sein."
Sie schloss das E-Mail-Fenster und blickte noch einmal aus dem Fenster. Die Müdigkeit saß immer noch in ihren Schultern, aber sie fühlte sich leichter an jetzt, getragen von etwas, das sie nicht ganz benennen konnte. Die Stadt leuchtete weiter, gleichgültig und schön, ein Mosaik aus Leben und Licht.
Emma packte ihre Sachen zusammen. Die Tastatur klickte leise, als sie den Computer herunterfuhr. Das Summen der Klimaanlage wurde zu einem Hintergrundgeräusch, zu einem Teil der Nacht. Sie nahm ihre Tasche, ihre Jacke, und ging zur Tür.
Im Aufzug, während sie nach unten fuhr, dachte sie an Leonhard drei Stockwerke unter ihrem Büro, vielleicht auch gerade auf dem Weg nach draußen. Sie dachte an Träume, die sich verwandelt hatten, an Leben, die anders verliefen als geplant, und daran, wie manchmal die falschen Wege zu den richtigen Begegnungen führten.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich, und Emma trat hinaus in die Nacht. Die Luft war kühl und trug den Geruch der Stadt – Asphalt und ferne Blüten, Abgase und Hoffnung. Sie atmete tief ein und begann zu gehen, ihre Schritte hallten in der leeren Lobby.
Morgen würde sie Leonhard vielleicht in der Kantine sehen. Sie würden vielleicht nur nicken, oder sie würden reden, über Kaffee und die Müdigkeit, die alle teilten, die in diesem Gebäude arbeiteten. Aber sie würde sich an dieses Gespräch erinnern, an die Worte, die in der Stille der Nacht geteilt wurden, an die Art, wie ein Fehler zu etwas Echtem werden konnte.
Die Straße lag vor ihr, beleuchtet von Laternen, die ihr Licht wie sanfte Versprechen auf den Bürgersteig warfen. Emma zog ihre Jacke enger um sich und ging los, nach Hause, wo ein Bett auf sie wartete und die Träume, die zwischen Schlaf und Wachen lebten – jene Träume, die vielleicht doch noch nicht ganz verloren waren.
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