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Der kleine Hafen am Ende der Welt 4 Min. Lesezeit
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Fernweh

Der kleine Hafen am Ende der Welt

Die Mitternachtssonne hing tief über den schroffen Gipfeln des Fjords, als Bella den gewundenen Pfad hinabstieg. Obwohl es bereits spät am Abend war, badete das Licht die Landschaft in ein unwirkliches Gold, das die steilen Felswände wie glühende Kohlen erscheinen ließ.

Von Jannis

Photo by fajar raihan / Unsplash

Die Mitternachtssonne hing tief über den schroffen Gipfeln des Fjords, als Bella den gewundenen Pfad hinabstieg. Obwohl es bereits spät am Abend war, badete das Licht die Landschaft in ein unwirkliches Gold, das die steilen Felswände wie glühende Kohlen erscheinen ließ. Der Duft von Heidekraut und feuchtem Moos vermischte sich mit der salzigen Brise, die vom tiefen, dunklen Wasser heraufstieg. Jeder ihrer Schritte auf dem steinigen Pfad hallte leise wider, verschluckt von der gewaltigen Stille, die über dem Fjord lag.

Das Dorf erschien zwischen den Felsen wie ein vergessenes Geheimnis – eine Handvoll roter und ockerfarbener Holzhäuser, die sich an den steilen Hang klammerten, als fürchteten sie, ins Wasser zu stürzen. Die schmalen Gassen zwischen den Häusern waren kaum mehr als Trampelpfade, gesäumt von verwitterten Zäunen und wilden Lupinen, deren violette Blüten im ewigen Dämmerlicht leuchteten. Bella spürte das feuchte Holz der Geländer unter ihren Fingern, glatt poliert von unzähligen Händen, die sich hier festgehalten hatten.

Aus einem der niedrigen Fenster drang der Duft von gebratenem Kabeljau und Dill. Sie konnte das leise Brutzeln hören, das Klappern von Geschirr, eine Männerstimme, die eine alte Melodie summte – eine jener norwegischen Weisen, die so alt waren wie die Berge selbst. Der Rauch aus den Schornsteinen stieg kerzengerade in die windstille Luft, kleine graue Säulen, die sich langsam im perlmuttfarbenen Himmel auflösten.

Die Möwen über dem Fjord schwebten reglos in der Thermik, ihre Schreie gedämpft und melancholisch, als trauerten sie um etwas Verlorenes. Eine von ihnen ließ sich auf einem moosbewachsenen Felsen nieder und beobachtete Bella mit klugen, bernsteinfarbenen Augen. Das Wasser des Fjords lag so still da, dass es wie ein schwarzer Spiegel wirkte, in dem sich die umliegenden Berge und der endlose Himmel verdoppelten.

Als Bella die letzte Biegung nahm, öffnete sich vor ihr der kleine Hafen. Einige wenige Fischerboote dümpelten träge an ihren Vertäuungen, ihre bunten Rümpfe – rot, blau, grün – wirkten wie Farbkleckse auf einer monochromen Leinwand. Das leise Glucksen des Wassers gegen die Holzpfähle mischte sich mit dem Knarren der Taue, ein hypnotisches Konzert, das seit Generationen unverändert geblieben war.

Am Ende des winzigen Kais, unter dem schwachen Schein einer Petroleumlampe, saß ein alter Mann auf einer umgedrehten Fischkiste. Seine Hände arbeiteten geschickt an einem Stück Treibholz, das die See glatt geschliffen hatte. Die Späne fielen zu seinen Füßen wie Schneeflocken. Als er Bellas Schritte hörte, hob er den Kopf. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt, durchzogen von tiefen Furchen wie die Fjordwände selbst. Aber in seinen hellblauen Augen lag eine Wärme, die Bella sofort erfasste.

Er nickte ihr zu, ein stummes Willkommen, als hätte er sie erwartet. Bella fühlte, wie die Anspannung der langen Reise von ihr abfiel wie ein schwerer Mantel. Sie ließ sich neben ihm auf den kalten Stein nieder, ihre Beine baumelten über dem dunklen Wasser. Unter der Oberfläche konnte sie die Umrisse von Seetang erkennen, der sich sanft in der unsichtbaren Strömung wiegte, und ab und zu blitzte ein Fisch silbern auf.

Der Himmel über dem Fjord wandelte sich langsam. Das Gold der Mitternachtssonne vertiefte sich zu einem zarten Rosa, dann zu einem blassen Violett, aber die Dunkelheit würde nicht kommen – nicht in dieser Jahreszeit. Stattdessen schwebte die Welt in einem ewigen Zwielicht, einer Zeit zwischen den Zeiten. Die ersten Sterne wagten sich zaghaft hervor, kaum sichtbar gegen das helle Firmament.

Der alte Mann deutete mit einer knorrigen Hand auf ein kleines Segelboot. „Lento" – der Name war kaum noch zu entziffern auf dem verwitterten Holz. Das Boot lag ruhig da, sein weißer Rumpf schimmerte gespenstisch im Dämmerlicht. Eine dicke Wolldecke lag zusammengefaltet auf der Bank, und Bella konnte von hier aus den Geruch von Lanolin und Salz wahrnehmen.

Sie erhob sich, ihre Knie protestierten leicht gegen die Kälte, die vom Stein aufgestiegen war. Die wenigen Schritte zum Boot kamen ihr vor wie eine kleine Pilgerreise. Das Holz des Stegs war feucht vom Tau, rutschig unter ihren Sohlen. Als sie ins Boot stieg, neigte es sich sanft zur Seite, hieß sie willkommen wie ein treues Tier.

Die Decke war schwerer als erwartet, rau und fest gewebt, aber als Bella sie um ihre Schultern legte, umhüllte sie eine Wärme, die mehr war als nur physisch. Sie streckte sich auf der schmalen Bank aus, den Kopf auf ein zusammengerolltes Seil gebettet. Über ihr spannte sich der endlose norwegische Himmel, durchzogen von zarten Schleierwolken.

Das Boot wiegte sich kaum merklich, ein sanftes Auf und Ab, das sich mit Bellas Atem synchronisierte. Das Wasser plätscherte leise gegen den Rumpf, ein uraltes Lied ohne Worte. Ab und zu knarrte das Holz, seufzte und ächzte, als erzählte es von all den Stürmen, die es überstanden hatte. Sie konnte das Salz auf ihren Lippen schmecken, gemischt mit der klaren, kalten Luft der nordischen Nacht.

In der Ferne, irgendwo zwischen den Bergwänden, erklang der einsame Ruf eines Seetauchers, so durchdringend und melancholisch, dass Bella eine Gänsehaut bekam. Ein Schwarm kleiner Fische durchbrach die Wasseroberfläche, tausend kleine Ringe breiteten sich aus und verschwanden wieder. Die Berge ringsum standen wie stumme Wächter, ihre Gipfel noch immer vom ewigen Schnee gekrönt.

Der alte Mann saß noch immer an seinem Platz, eine dunkle Silhouette gegen das helle Wasser. Das stetige Kratzen seines Messers mischte sich mit den Geräuschen der Fjordnacht – dem fernen Rauschen eines Wasserfalls, dem Knacken von Holz in den Häusern, dem gelegentlichen Platschen eines Seehunds.

Ein Hauch von Preiselbeeren und wildem Thymian wehte von den Hängen herab. Bella zog die Decke enger um sich und spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Das Boot war ihre kleine Arche in diesem Land der Mitternachtssonne, ein Zufluchtsort zwischen Himmel und Meer. Sie war angekommen und doch unterwegs, ruhend in der Bewegung.

Die Zeit verlor ihre Bedeutung hier, wo die Sonne niemals unterging und die Nacht nur ein blasser Schatten ihrer selbst war. Bella schloss die Augen und ließ sich vom sanften Rhythmus des Fjords wiegen. Das letzte, was sie wahrnahm, war das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein – eingebettet in die zeitlose Umarmung dieser gewaltigen Landschaft, geborgen im Schoß der nordischen Stille.

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