
Das Haus am Lavendelfeld
In dieser lauen Sommernacht, unter dem sternenübersäten Himmel der Provence, umgeben vom Duft des Lavendels und dem sanften Gesang der Zikaden, fand Clara endlich, wonach sie gesucht hatte.
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Ein passender Song zur Geschichte
Der Himmel über der Provence färbte sich in zartes Abendrot, als Clara den schmalen Schotterweg hinauffuhr. Kleine Staubwolken tanzten im Licht der sinkenden Sonne, während ihr alter Citroën sich den sanften Hang hinaufkämpfte. Die Müdigkeit der letzten Monate hatte sich in jede Faser ihres Körpers eingewebt – ein feines Gespinst aus Überstunden, Termindruck und dem ständigen Summen der Großstadt.
Als das Haus schließlich zwischen den Zypressen sichtbar wurde, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Ein Steingebäude mit verwitterten Fensterläden in verblasstem Blau, die Fassade vom Wetter gezeichnet und doch von einer stillen Würde. Die untergehende Sonne ließ den Kalkstein golden leuchten, als wäre das Haus selbst ein lebendes Wesen, das im Licht atmete.
Clara parkte, öffnete die Wagentür und wurde sofort von einer Welle aus Düften empfangen. Lavendel, so weit das Auge reichte – ein violettes Meer, das sich sanft im Abendwind wiegte. Dazwischen Thymian und wilder Rosmarin, deren Aromen die Hitze des Tages konserviert hatte und nun in die kühler werdende Luft freigab.
„Endlich", flüsterte sie und spürte, wie etwas in ihr nachgab, eine Spannung, die sie so lange getragen hatte, dass sie deren Gewicht erst jetzt bemerkte, da es sich zu lösen begann.
Der Schlüssel steckte unter einem Blumentopf neben der Eingangstür, genau wie Sophie es ihr beschrieben hatte. „Nimm dir Zeit", hatte ihre Freundin gesagt. „Das Haus hat seinen eigenen Rhythmus. Es lehrt dich, langsamer zu werden."
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Seufzen. Clara trat ein und ließ die kühle Luft des Innenraums über ihr erhitztes Gesicht streichen. Die Möbel waren alt, aber nicht verfallen – ein massiver Esstisch aus dunklem Holz, umgeben von unterschiedlichen Stühlen, als hätte jeder seine eigene Geschichte zu erzählen. Ein abgenutztes Sofa mit verblichenen Blumenmustern stand vor einem steinernen Kamin, darüber ein vergilbter Spiegel, der das gedämpfte Licht des Raumes einfing und sanft zurückwarf.
In der Küche fand sie einen handgeschriebenen Zettel. „Willkommen im Haus der Stille", stand dort in Sophies schwungvoller Handschrift. „Brot im Korb, Wein im Keller, Kräuter im Garten. Alles andere findet sich." Clara lächelte. Wie typisch für Sophie – keine Anweisungen, keine Regeln, nur eine Einladung zum Sein.
Die ersten Tage vergingen wie im Nebel. Clara schlief viel, manchmal zehn, zwölf Stunden am Stück, als müsste ihr Körper Jahre des Schlafentzugs aufholen. Sie wachte auf, wenn die Morgensonne durch die Ritzen der Fensterläden fiel und Staubpartikel in goldenen Bahnen tanzen ließ. Langsam begann sie, Rituale zu entwickeln.
Am frühen Morgen öffnete sie die Tür zur Terrasse und trat barfuß ins feuchte Gras. Der Tau zwischen ihren Zehen war kühl und erfrischend – ein Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Sie ging bis zum Rand des Lavendelfeldes, wo der Hang sanft abfiel und den Blick auf das Tal freigab. Dort stand sie dann, die Arme weit ausgebreitet, und ließ die ersten Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fallen.
Die Stunden des Vormittags nutzte sie, um das Haus zu erkunden. Jede Ecke schien eine neue Überraschung zu bergen – ein altes Gemälde, dessen Farben die Zeit überdauert hatten, eine Sammlung handgeblasener Glasflaschen in einem verstaubten Regal, kleine Muscheln auf den Fensterbänken, als hätte jemand über Jahre hinweg Schätze vom Meer mitgebracht.
In der Nachmittagshitze bereitete sie sich Tee zu – nicht den schnellen, dampfenden Kaffee, den sie in ihrem Büro trank, sondern einen langsam ziehenden Kräutertee aus dem Garten. Sie nahm sich Zeit, die Minzblätter zu waschen, zuzusehen, wie sie im Wasser ihre Farbe abgaben, zu spüren, wie der Duft aufstieg. Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich dann auf die Steinterrasse, deren Wärme durch den dünnen Stoff ihrer Kleidung drang, und beobachtete die Zikaden, deren Gesang die Nachmittagsstille durchbrach.
Die Abende gehörten dem Himmel. Clara hatte vergessen, wie viele Sterne es gab. In der Stadt waren sie nur blasse Erinnerungen, hier jedoch breiteten sie sich aus wie ein funkelnder Teppich über dem Lavendelfeld. Sie saß auf der Terrasse, ein Glas Wein in der Hand, und beobachtete, wie die Dämmerung das Land in immer tiefere Blautöne tauchte, bis schließlich nur noch die Umrisse der Zypressen gegen den Nachthimmel standen.
An einem regnerischen Nachmittag – der Lavendel duftete nach dem Schauer intensiver, fast berauschend – entdeckte Clara die Bibliothek. Ein kleiner Raum im hinteren Teil des Hauses, dessen Fenster auf einen verwilderten Garten blickten. Die Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, die sich unter der Last jahrhundertealter Bände bogen. Leder, Papier und das unverwechselbare Aroma alter Tinte erfüllten den Raum mit einer feierlichen Atmosphäre.
Clara ließ ihre Finger über die Buchrücken gleiten, genoss das Gefühl des geprägten Leders und das Knistern der vergilbten Seiten. In einer Ecke, zwischen zwei schweren Bänden eingeklemmt, entdeckte sie ein unscheinbares Notizbuch. Der Einband war aus einfachem braunem Leder, die Kanten abgerieben von häufigem Gebrauch. Als sie es öffnete, fiel ihr Blick auf eine feine, geschwungene Handschrift.
„19. Juni 1957. Die Lavendelfelder stehen in voller Blüte. Das Licht hier hat eine Qualität, die ich nicht beschreiben kann – es ist, als würde die Luft selbst golden schimmern. Heute habe ich stundenlang auf der Terrasse gesessen und den Bienen zugehört, wie sie von Blüte zu Blüte summen. Ihre Arbeit hat etwas Beruhigendes, eine stille Entschlossenheit, die ich bewundere."
Clara setzte sich in den alten Ledersessel am Fenster, zog die Beine an und begann zu lesen. Die Einträge waren kurz, oft nur wenige Zeilen, manchmal ein längerer Absatz. Sie stammten von einer gewissen Elise, die offenbar in den 1950er Jahren hier gelebt hatte. Keine großen Ereignisse, keine dramatischen Wendungen – nur der Rhythmus eines Lebens, das sich nach den Jahreszeiten richtete.
„3. Juli 1957. Die Hitze ist fast unerträglich, aber die Abende entschädigen für alles. Heute habe ich bis spät auf der Terrasse gesessen und den Mond beobachtet, wie er über den Lavendelfeldern aufging. Eine tiefe Stille lag über dem Land, nur unterbrochen vom leisen Rascheln der Blätter. In solchen Momenten fühle ich mich vollkommen im Einklang mit der Welt."
Clara fand sich in diesen Worten wieder. Auch sie hatte begonnen, den Rhythmus des Hauses zu spüren, die Art, wie das Licht durch die Räume wanderte, wie die Holzdielen unter ihren Füßen knarrten, als erzählten sie Geschichten vergangener Bewohner.
Die Einträge im Notizbuch wurden zu einem Ritual. Jeden Abend, wenn das Tageslicht schwächer wurde und der Himmel sich in tiefes Violett färbte, nahm Clara das Buch zur Hand und las einen weiteren Eintrag. Manchmal nur wenige Zeilen, manchmal mehrere Seiten, immer aber spürte sie die Verwandtschaft mit dieser unbekannten Frau, die Jahrzehnte vor ihr an denselben Fenstern gestanden, dasselbe Licht beobachtet hatte.
„12. August 1957. Die Ernte beginnt. Der Duft des geschnittenen Lavendels liegt schwer in der Luft. Ich habe kleine Bündel gebunden und im Haus aufgehängt. Wenn der Wind durch die offenen Fenster weht, erfüllt ihr Aroma jeden Raum. Die Zeit vergeht so seltsam hier – manchmal scheint ein Tag wie eine Woche, dann wieder vergehen Wochen wie ein einziger langer Tag."
In den folgenden Tagen begann Clara, die Umgebung zu erforschen. Sie wanderte die schmalen Pfade zwischen den Lavendelfeldern entlang, entdeckte versteckte Quellen, an denen das Wasser kristallklar über moosbedeckte Steine plätscherte. In der Ferne konnte sie manchmal die Umrisse eines Dorfes erkennen, dessen weiße Häuser sich an einen Hügel schmiegten, aber sie verspürte keinen Drang, dorthin zu gehen. Die Welt des Hauses, des Gartens und der Felder war genug.
Eines Abends, als die Sonne gerade hinter den Hügeln versank und der Himmel sich in ein Gemälde aus Orange und Rosa verwandelte, machte Clara einen besonderen Fund im Notizbuch.
„20. September 1957. Heute Nacht habe ich unter freiem Himmel geschlafen. Ich habe eine Decke auf die Terrasse gelegt und mich in den Anblick der Sterne vertieft. Der Duft des Lavendels war wie eine sanfte Umarmung. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug mehr und mehr ein Teil dieses Ortes zu werden. Als ob meine Gedanken sich in die gleiche Richtung bewegten wie die Wolken am Himmel, mein Herzschlag sich dem Rhythmus der Zikaden anpasste. Ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl für immer bewahren – diese vollkommene Harmonie, dieses Angekommen-Sein."
Clara lächelte. Es war, als hätte Elise ihr einen Weg gezeigt, als hätte sie über die Jahrzehnte hinweg eine Hand ausgestreckt.
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Abenddämmerung legte sich wie ein violetter Schleier über die Landschaft. Clara trug eine Decke auf die Terrasse, breitete sie sorgfältig aus und legte sich nieder. Über ihr breitete sich der Himmel aus, zunächst in tiefen Blautönen, dann in samtigem Schwarz, durchsetzt von funkelnden Sternen.
Der Duft des Lavendels stieg vom Feld auf, vermischte sich mit dem Aroma von Thymian und wildem Rosmarin. Die Zikaden sangen ihr endloses Lied, ein sanftes Hintergrundgeräusch, das sich mit dem leisen Rauschen der Blätter in den Zypressen verwebte.
Clara atmete tief ein und aus. Sie spürte, wie ihr Körper schwerer wurde, wie er in die Erde sank, als wollte er Wurzeln schlagen. Ihre Gedanken, die jahrelang wie aufgescheuchte Vögel durch ihren Kopf geflattert waren, wurden langsamer, setzten sich zur Ruhe.
In dieser lauen Sommernacht, unter dem sternenübersäten Himmel der Provence, umgeben vom Duft des Lavendels und dem sanften Gesang der Zikaden, fand Clara endlich, wonach sie gesucht hatte – nicht in den komplizierten Entwürfen ihrer Architekturprojekte, nicht in der Hektik der Stadt, sondern hier, in diesem Moment vollkommener Stille.
Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Atem der Nacht, spürte das sanfte Pulsieren des Lebens um sie herum. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, passte sich dem Rhythmus der schlafenden Landschaft an. In diesem Augenblick war sie ganz da, ganz präsent – angekommen bei sich selbst und im Moment.
Und während sie langsam in den Schlaf hinüberglitt, schien es ihr, als flüsterte das alte Haus ihr eine zeitlose Wahrheit zu: Dass Heimat kein Ort ist, sondern ein Gefühl – das Gefühl, im Einklang zu sein mit sich selbst und der Welt.
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